Es ist erstaunlich, was Oberammergau alle zehn Jahre auf die Beine bringt, auch logistisch. Fünf Stunden lang sind mehrere Hundertschaften, ein 48 Köpfe zählender Chor mit Sprecher und ein großes Orchester dabei, uns das Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen Christi vorzuführen. An dem Spiel dürfen nur gebürtige Oberammergauer teilnehmen oder, und das erst seit dem Zweiten Weltkrieg, auch Zugezogene, die seit mindestens 20 Jahren in der Gemeinde wohnen. Heute herrscht Gleichberechtigung, aber damit tat man sich im traditionsverhafteten Ort unterm Kofel schwer. Bis 1990 durften nur unverheiratete, vom Passionsspielkomitee als unbescholten erachtete Frauen bis zum Alter von 36 Jahren am „Spui“ mitwirken. Drei Oberammergauerinnen zogen vor Gericht und bekamen Recht. Drei Monate vor dem Spiel von 1990 musste Stückl noch rasch die drei Klägerinnen, sowie 26 weitere Frauen, die ihr erstrittenes Mitwirkungsrecht in Anspruch nahmen, einbinden. Von der Emanzen-Passion war die Rede. Am Aschermittwoch ein Jahr vor Spielbeginn ergeht der Haar- und Barterlass, der die Spieler auffordert, ihr Haar wachsen zu lassen. Die Männer sind bärtig und haben wallendes Haar und lange Locken. Daher sind die Römerrollen beliebt, weil Mann sich in diesen Rollen weiterhin rasieren darf.
Seit 1750 wird das Mysterienspiel von Tableaux vivants unterbrochen, die an die Krippenkultur des Alpenraums erinnern. Sie zeigen Szenen aus dem Alten Testament, meist aus den Büchern Moses, und verklammern als Präfigurationen des Lebens Christi die Geschichte des Alten und des Neuen Bundes. Die 12 Lebenden Bilder sind von Italienischer Renaissancemalerei inspiriert, die Farben leuchten orientalisch und stehen in Kontrast zu den Naturtönen der Kostüme die in den Szenen aus dem Neuen Testament getragen werden. Eingeführt werden die Lebenden Bilder durch einen gesprochenen Prolog und gesungenen Dialog. Sie bilden Ruhepunkte für den Betrachter. Die Oratorienmusik mit ihren Arien, Duetten und Chören nimmt etwa ein Drittel der Spielzeit ein. Neben den ausgezeichneten Solisten singt ein beeindruckender Chor. Am Pult stehen Michael Bocklet und Markus Zwink, der nun schon zum dritten Mal als Dirigent dabei ist, nachdem er 1980 Basssolist war. Zwink, der aus einer der ältesten Familien Oberammergaus stammt, hat die schöne und leider viel zu selten gespielte Musik des Haydn-Nachfolgers Rochus Dedler (1777-1822) von 1820 neu bearbeitet und auch eigene Kompositionen subtil eingefügt.
Die Pause dauert drei Stunden. Und die sind nötig, weil die Gasthäuser das Zuschauerheer, das seiner Zahl nach fast die Einwohnerschaft des Ortes aufwiegt, nur in zwei Schichten verköstigen kann. Und es soll ja auch noch Zeit für einen Spaziergang durch den Ort und seine Souvenirläden bleiben. Diese sind bis zum Bersten gefüllt. Neben den vielleicht nicht ganz so typischen Kuckucksuhren finden sich die ureigensten Produkte: Holzgeschnitztes aus Eiche, Linde, Zirbel: heilig und profan, gewachst oder gebeizt. Neben Christus- und Christopherusfiguren finden sich Kellermeister, Bacchusse und Callgirls. Nach einem fetten folgen neun magere Jahre. Das Spiel konnte dieses Jahr nur mit der Hilfe des Freistaates auf die Beine gestellt werden. Da gilt es Vorsorge zu treffen.
Um dem Trubel zu entgehen, bestellte ich mir rechtzeitig einen Platz in der am südlichen Ortsrand gelegenen Lokalbrauerei. Herrlich eingerahmt von Lüftlmalerei und mit Blick auf den Hausberg Kofel sitze ich auf der eleganten Terrasse und höre wie eine Rheinländerin in ihr Mobiltelefon brüllt: „Du kannst mich schlecht erreichen. Anfang der Woche war ich in Bayreuth, jetzt bin ich in Oberammergau, da war ich auch noch nicht, und dann geht es weiter nach Salzburg, wie jedes Jahr.“ Aus einer Plastiktüte nimmt sie anschließend eine gelbe Flasche Likör aus dem nahegelegenen Kloster, um sich damit Mut zuzusprechen, für das, was kommen mag.
Auch nach der Pause gibt es wieder beeindruckende Massenszenen mit mehreren hundert Darstellern, die auf der 40 Meter breiten Bühne gut Platz finden. Kaum eine Oper, die so viele Choristen, kaum ein Theater das so viele Statisten auf die Bühne bringt. Ganze einundfünfzig Mal schlägt die Gemeinde jeden der beiden Christusdarsteller mit Tricknägeln ans Kreuz. Dort hängt Christus nahezu 14 Minuten, etwas länger als seine Leidensgefährten, die Schacher Gesmas und Dismas. Damit der Christusdarsteller mit seinem seit 1980 freien Oberkörper während der Kreuzigung nicht unterkühlt, installierte man im Kreuz einen für das Publikum unsichtbaren Wärmestrahler.
Bei der Kreuzabnahme sinken die Körper der beiden Verbrecher zu Seiten Christi auf den Rücken eines römischen Soldaten. Damit die Szene nicht in einem Leitersturz endet, und die ganze Passion sich nicht ins Lächerliche auflöst und damit zunichte gemacht wird, legt man ein langes, festes weißes Tuch unter die Achseln des Darstellers und kann ihn so langsam und würdig vom Kreuz abnehmen.
Das Grab wird beweint, dann erscheint Jesus als Lichtgestalt. Er ist auferstanden. Halleluja, Halleluja, Halleluja, es ist überwunden, singt der Chor in Jubelrufen. Langsam wird die Musik leiser, einzeln gehen die Sänger von der Bühne. Das Stück ist aus. Zaghaftes Klatschen unter den Zuschauern. Zum Glück habe ich Taschentücher mitgenommen.
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Weitere Vorstellungen des Passionsspiels bis zum 3. Oktober 2010, fünfmal die Woche, jeweils von 14:30 bis 22:30 (mit dreistündiger Pause). Die Montage und Mittwoche sind spielfrei. Es gibt zu fast jeder Aufführung noch Restkarten, sowie sogenannte Arrangements, die eine Eintrittskarte mit Übernachtung und Mahlzeiten einschließen.