Etwas unkomplizierter gestalten sich die speziellen, zweckgerichteten Übertragungen subtiler Künste an ihre Liebhaber. Opernaufführungen der Mailänder Scala werden bereits heute regelmäßig via Internet live in Mailänder Kinos »überspielt«. Das gewährt den Kunstgenuss zu Preisen, die erschwinglicher sind als die Karten fürs Opernhaus selbst. Die zudem meist jahrelang vorbestellt werden müssen, ohne Garantie für eine bestimmte Aufführung. Auch in den Berliner Cinestar-Kinos im Sonycenter kommen die Live-Aufführungen der Metropolitan Opera New York und des Londoner Royal Opera House, Covent Garden, beim Publikum an.
Natürlich waren es die Übertragungen der »Met«, die Olaf Maninger, Geschäftsführer der Digital Concert Hall, und seinen Partner Robert Zimmermann nicht ruhen ließen, auch ihre Konzerte auf die Leinwand in einem großen Kino zu überspielen. Mit der Protektion der Deutschen Bank, die das Orchester seit Jahren mit jährlich 4 Millionen Euro fördert, und einer Zusatzförderung im einstelligen Millionenbereich ein lösbares Problem. Die Berliner Philharmoniker hatten bereits seit Januar 2009 die Möglichkeit, jedes Konzert über das Internet live zu übertragen, faktisch ein Monopol. Nutzung gegen eine Gebühr – versteht sich. In der vergangenen Saison hat die Tochtergesellschaft Berlin Phil Media GmbH 3 500 Jahresabonnements sowie mehr als 1000 Monatsabos verkauft. Die größten Anteile haben Deutschland mit 44 Prozent, Japan mit 18 und die USA mit 13 Prozent. Es folgen Spanien, Italien und Großbritannien.
Im Gegensatz zu Fernsehübertragungen, bei denen Kameras rollen und vor allem Scheinwerfer blenden und Schweißperlen treiben, hat die DCH ein eigenes, geräuschloses, ferngesteuertes System von Kameras installiert, das von den Musikern und den Zuschauern nicht wahrgenommen wird. Denn bei aller Affinität zur Publicity haben die Philharmoniker darauf bestanden: keine (zusätzlichen) Scheinwerfer, keine Schminke, keine Kameras und Kameramänner und keine Proben oder gar Umbauten oder Eingriffe in die gewohnte Platzierung. Das Konzert soll sein wie immer, die ungestörte Atmosphäre, das gewohnte warme Licht, der Kontakt zum Dirigenten und zu den Solisten völlig unbeeinflusst von äußeren Bedingungen – allenfalls vom Publikum. Und so geschieht es. Befürchtungen und Bedenken einzelner Dirigenten und Solisten haben sich schnell zerstreut, bestätigt der Medienvorstand Olaf Maninger. Mittels der ferngesteuerten und im eigenen Studio gemischten Aufnahmen hat der externe Konzertbesucher das Erlebnis, unmittelbar dabei zu sein.
Die Weltpremiere der DCH im Kino startete am 10. Februar 2010 im Cinestar am Potsdamer Platz. Die Zuschauer waren dem Orchester ganz nah, sahen die »Trompete«, das »Horn«, die Celli, wenn sie deren Musik hörten. Gutes Licht und gestochene Bilder vermittelten einen überzeugenden Eindruck von der konzentrierten und hingebungsvollen Arbeit der Künstler. Und auch die kleinen Eitelkeiten der Musiker bleiben nicht verborgen.
Das ist es möglicherweise, was die eigene Ästhetik der Digital Concert Hall ausmacht. Die fiktive Anwesenheit im Konzertsaal, die Draufsicht auf das Orchester, der Klang und die Hintergrundgeräusche im Saal der Philharmonie, die das Beteiligtsein suggerieren. Doch im Unterschied zur Sicht der dort Anwesenden zoomen die Operateure die Musiker heran und machen den Dialog zwischen Dirigent und Orchester oder zwischen Solist und Orchester sichtbar. Die Kamera zeigt Details, die im Konzertsaal niemand wahrnimmt – bis hin zu den Schweißtropfen auf der Violine des Konzertmeisters.
Am Freitag übertrugen die Berliner Philharmoniker ihr Eröffnungskonzert der Saison 2010/2011 in 33 deutsche Kinos der Cinestarkette sowie in weitere 31 Kinos in Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Luxemburg, Österreich, Litauen, Russland, Polen, Spanien und Großbritannien. Freilichtaufführungen fanden in Dresden, Hamburg und Köln statt. Unter Leitung von Sir Simon Rattle spielte das Orchester die 4. Sinfonie von Ludwig van Beethoven und die Symphonie Nr. 1 D-Dur von Gustav Mahler. In den deutschen Kinos betrug der Eintrittspreis 19 Euro. In den »Public Viewings« war der Eintritt frei.
In Brandenburg startete der Großversuch im Kino 2 des Cinestar Filmpalast Wildau, der verkehrsgünstig im Einkaufscentrum an der A 10 gelegen ist und seine Besucher aus dem südlichen Randgebiet von Berlin, aus Königs Wusterhausen und Umland rekrutiert. Mit 95 Gästen waren die 471 Plätze des Saales, dessen Umrüstung Kinoleiter Jens Wildner mit großer Energie betrieben hatte, nur zu 20 Prozent besetzt. Gekommen war ein interessiertes, allerdings meist älteres Publikum. Die jüngeren Jahrgänge fehlten. Viele Besucher hatten sich für das Ereignis »feingemacht«. Instruktiv waren die Einblicke in die Technik und die Arbeitsweise der Digital Concert Hall vor Beginn des Konzerts. Und offensichtlich genossen die virtuellen Konzertbesucher ihr Privileg: die sensiblen Einführungen in die Werke des Programms durch Sir Simon Rattle. Leider war die deutsche Übersetzung nicht komplett zu lesen. Aber der Vorführer konnte am Satellitensignal nichts ändern.
Bild- und Tonqualität waren ausgezeichnet. Was weniger auffiel, aber das DCH-Prinzip der fest installierten Kameras durchbrach, eine Zusatzkamera zeigte den Dirigenten aus anderer Perspektive. Bei seiner schweißtreibenden Arbeit geriet die Ästhetik mitunter an ihre Grenzen. Es wäre zudem auszuprobieren, ob die Konzertbesucher im Kinosaal tatsächlich im Dunkeln sitzen müssen. Die Besucher im Konzertsaal tun das nicht. Nach dem Ende des Konzerts stimmten zahlreiche Konzertbesucher in den Beifall auf der Leinwand ein. Das Urteil: gut bis begeistert.
Für viele Gäste zählen auch rein praktische Vorzüge des Kinobesuchs im Wohnumfeld. Es entfallen die Autofahrt nach Berlin, die Parkplatzsuche am Potsdamer Platz. »Und die Kinositze sind bequemer als die in der Philharmonie.« Ein Besucher war sogar aus Berlin gekommen, weil das Kino im Sonycenter ausverkauft war. Preiswerter als eine »echte« Karte war das Erlebnis auch. Die 19 Euro empfanden die einen der Befragten als angemessen, andere meinten, ein paar Euro weniger könnten es schon sein. Viele wollen wiederkommen, falls es weitere »Digitalkonzerte« gibt.
Die Veranstalter sehen die Übertragung als Großversuch, dessen Wiederholung von der Qualität, aber insbesondere von der Resonanz des Publikums abhängt. Denn technisch gesehen ist die Übertragung noch ein gewisses Wagnis. Das Signal muss stabil vom Satelliten gesendet werden. Und natürlich erfordert ein solches Projekt einen erheblichen technischen, finanziellen und organisatorischen Aufwand. Die Umrüstung eines Kinos kostet in etwa 120 000 Euro. Die Cinestar-Gruppe hat bisher etwa 4 Millionen Euro investiert.
Ökonomisch liegt das Ergebnis des Abends in Wildau bei Übertragungskosten von 1000 Euro je Stunde an der unteren Grenze. Die Betreiber werden Preis und Kaufkraft abwägen müssen. Ein neuer Termin ist noch in diesem Jahr angedacht. Doch das hängt, wie der Marketingchef der DCH,Tobias Möller, sagt, von der Analyse und von technischen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen ab, und nicht zuletzt vom Geldbeutel der Besucher. Denn: auch wenn die Karten für Kinoübertragungen weniger kosten als für die Philharmonie oder die Opernhäuser, muss der Musikfreund 19 oder 27 Euro und zusätzlich das Fahrgeld aufbringen. Was ein höheres Einkommen verlangt als Hartz lV. Das Problem haben nicht die Künstler geschaffen, aber in dieser Gesellschaft hat auch der Musikgenuß Klassengrenzen.
Den größten Erfolg verbuchte die Deutsche Bank. Ihr Logo sowie die lobenden Worte von Sir Simon Rattle sahen und hörten die Konzertempfänger in aller Welt. Eine Spielart von Investment-Bank.
Für Cinestar Wildau bleibt das Konzert nicht die einzige Digitalnutzung. Am 9. Oktober zeigt es live aus New York die Oper »Das Rheingold« von Richard Wagner. Es folgen sieben weitere Aufführungen der Saison mit Opern von Verdi, Mussorgsky, Donizetti, Rossini und Gluck. Eintritt 27 Euro im Vorverkauf. Der Opernfreund kann Stars wie Anna Netrebko, Placido Domingo, Susan Graham und andere »live« erleben. In der neuen Saison werden 110 Kinos in Deutschland und Österreich Opern aus der Met übertragen. Andererseits ist ein Kino kein Opernhaus und kein Konzertsaal, und es ist die Frage, ob das Kino dadurch etwas von seiner Eigenheit einbüßt. Die reale Nachfrage bleibt abzuwarten.
Anmerkung:
Erstveröffentlichung in Neues Deutschland vom 31.08.2010.