Jetzt wäre es Zeit, das Theater zu verlassen, denn es ist schwer erträglich, in einem wunderschönen, ehrwürdigen Raum auf einem bequemen roten Samtpolster zu sitzen und sich auf brillanteste Weise unterhalten zu lassen, während gleichzeitig Menschen sterben, weil sie nichts zu essen haben.
Der Verfremdungseffekt, mit dem unerwartet auf einen Missstand hingewiesen wird, der eigentlich zur Genüge bekannt ist, stört das genussvolle Erleben der Vorstellung, führt aber auch wieder dorthin zurück.
Mit naiver Hilfsbereitschaft, ausgelöst durch das Wissen um das Elend hungernder Menschen, macht sich ja Johanna Dark auf den Weg, in bester Absicht, die skandalösen Verhältnisse jedoch nicht verändernd, sondern manifestierend.
Bertolt Brechts Klassikerparodie steckt voller Widersprüche, die sich gegenseitig aufheben, woraus dann neue Widersprüche entstehen. Erkennbar sind literarische Bezüge zu Goethe, Schiller und Hölderlin. Die Geschichte des Arbeiters Luckerniddle, der versehentlich zu Blattspeck verarbeitet wurde, hat Brecht dem Roman „The Jungle“ von Upton Sinclair entnommen. Aus diesem Roman hat Brecht ebenfalls seine Kenntnisse der Schlachthöfe Chicagos bezogen.
„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ ist ein Stück über die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise 1929. Brecht hat aber auch formuliert: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe soll die heutige Entwicklungsstufe des faustischen Menschen zeigen.“
Nicolas Stemann hat das gedanklich schwer befrachtete Lehrstück mit scheinbar müheloser Leichtigkeit auf die Bühne gebracht. Die Bühnenbilder, konzipiert von Stemann und Oliver Held, und die Kostüme von Esther Bialas vermitteln den trügerischen Glanz der 1920er Jahre. Atmosphärische Dichte entsteht auch durch die angejazzte Musik von Thies Mynther, live gespielt in den Proszeniumslogen von Mynther und seinen Musikern, die auch durch ihre stummen Kommentare zum Stück auf sich aufmerksam machen.
Sehenswert ist auch die Video-Künstlerin Ekaterina Grizik mit ihrer Miniatur-Börsenstadt, die in Großaufnahme auf der Leinwand erscheint.
Brecht hat die Figur des Fleischkönigs Pierpont Mauler zwar mit einigen individuellen Zügen ausgestattet, sah in Mauler aber nicht einen einzelnen bösen Menschen, sondern den Prototyp des Kapitalisten.
In Nicolas Stemanns Inszenierung erscheinen zu Beginn die Schauspieler Andreas Döhler, Felix Goeser und Matthias Neukirch als Mauler, Cridle und Lennox. Über die Rollenverteilung herrscht Uneinigkeit. Jeder will den Mauler spielen, einer schnappt den anderen die Rolle weg und bekommt sie in einem unbedachten Moment wieder abgenommen. Später, wenn Mauler von Johanna Dark zur Rede gestellt wird, behauptet jeder der Drei, er sei nicht der Mauler.
Was spaßig aussieht und von dem großartigen Trio eindrucksvoll unterspielt dargeboten wird, hat einen ernsten Hintergrund: Der Kapitalist Mauler hat kein identifizierbares Gesicht.
Abstand zu ihrer Rolle hält auch Katharina Marie Schubert. Sie macht die Figur der Johanna Dark verständlich, ohne die Illusion aufkommen zu lassen, Johanna zu sein. Es ist wichtiger, deren Anliegen zu verstehen, als mit ihr zu fühlen.
Doch bei dieser Johanna ist von Anfang an erkennbar, dass sie nicht die ist, die sie zu sein scheint. Die Soldatin der Schwarzen Strohhüte, die, mit dem Kreuz in der Hand, den Armen Suppe und das Wort Gottes verabreicht, trägt unter ihrer Uniformjacke ein bodenlanges Glitzerkleid. Als Johanna nach ihrem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Schwarzen Strohhüte die Jacke auszieht, offenbart sie einen gewagten Rückenausschnitt. Der wird durch eine Lederjacke verdeckt, wenn Johanna in der Folge zu den elenden Armen und dann zu den
aufständischen Arbeitern hinabsteigt. Von denen wird Johanna nicht akzeptiert. Sie gehört nicht zur Arbeiterklasse. Trotzdem bekommt sie den Auftrag, einen wichtigen Brief zu überbringen und führt den Auftrag nicht aus.
Am Schluss gibt Katharina Marie Schubert für ein paar Augenblicke die Distanz zu ihrer Rolle auf, wenn Johanna ihren Hass auf die Kapitalisten herausschreit und wenn Johanna, die immer für Gewaltlosigkeit plädiert hat, dazu auffordert, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
Aber das ist kein flammender Aufruf, das ist der Verzweiflungsausbruch einer Frau, die erkennt, dass all ihre guten Absichten ins Gegenteil verkehrt wurden.
Nach diesem Kontrollverlust wirft Johanna die Lederjacke ab, bekennt sich im Glitzerkleid zu der Klasse, der sie entstammt und reiht sich in den Triumphtanz der Kapitalisten ein.
Die Erschießung der Frau Luckerniddle kommentiert Johanna mit einem „Huch“. Damit ist die Vorstellung zu Ende, und dieses Huch lässt an das „Ach“ der Alkmene am Schluss von Kleists „Amphitryon“ denken.
Die Arbeiterbewegung, die in Brechts Stück eine entscheidende Rolle spielt, ist heute Geschichte. Als ihre Nachfolgerin wünschen sich Einige einen Zusammenschluss von Hartz-IV- EmpfängerInnen, obwohl die doch gemeinhin in immer gleichen scheußlichen und ungepflegten Container-Klamotten dargestellt und diskreditiert werden.
Margit Bendokat als Frau Luckerniddle trägt diese lächerliche Hartz-IV-Uniform und hält in einer Hand eine Plastiktüte von Lidl und in der anderen eine von OBI. Aber lächerlich ist sie nicht. Bendokats Frau Luckerniddle zeigt die Fratze der Armut, wenn sie, als Entschädigung für den Verlust ihres Mannes, der zerstückelt und verarbeitet wurde, das Angebot des Fabrikbesitzers annimmt, Essen in der Kantine zu bekommen. Sie hat Hunger, Ekelgefühle kann sie sich nicht leisten, und ihre Menschenwürde hat sie längst verloren.
Das verbindet diese Arbeiterfrau aus den 1920er Jahren mit vielen heutigen Hartz-IV-Empfängerinnen, die durch die Verachtung, die ihnen entgegengebracht wird und ihre Perspektivelosigkeit ebenfalls ihre Würde eingebüßt haben.
Als eine ganz andere Person zeigt Margit Bendokat sich am Schluss, als Aufständische, umgeben vom Chor, der singend und sprechend die Masse der Arbeiter darstellt.
Doch trotz ihrer Entschlossenheit und ihrer demagogischen Überzeugungskraft ist diese Arbeiterführerin nicht wirklich mitreißend. Sie wirkt etwas angestaubt, ein Relikt aus einer Zeit, die lange vergangen ist.
Nicolas Stemann und sein Ensemble haben sich mit Brechts Epischem Theater offenbar sorgfältig auseinandergesetzt und es in dieser geistreichen, spannenden Inszenierung großartig umgesetzt.
„Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ hatte am 16.12. Premiere im Deutschen Theater.
Weitere Vorstellungen: 29.12. und 03., 10. und 28.01.2010.