Wer nun, 45 Jahre später, erwartet hatte, eine hochaktuelle, besonders erschütternde Darstellung von Kindstötung zu erleben, wurde enttäuscht. Die Schaubühnen-Inszenierung bedient den Voyeurismus nicht.
Die grässliche Aktion ist nicht der Höhepunkt, sondern ein Teil des grausames Spiels, keine Eskalation, sondern die ganz normale Ausübung von Gewalt in einer Gesellschaft, in der es keine Empathie gibt.
Magda Willis Bühnenbild ist geprägt durch ein Landschaftsgemälde im Stil des 19. Jahrhunderts, das zu Beginn der Vorstellung vor der grauen Betonrückwand hochgezogen wird. Das ist der kulturelle Hintergrund, der auch die Emotionen anschaulich macht, zu denen die agierenden Personen nicht fähig sind. Die gemalten Bäume scheinen sich zu bewegen, mal in leichtem Wind, mal im Sturm, und die Veränderungen des Lichts demonstrieren die unterschiedlichen Stimmungen.
Wenn das Baby gefoltert und erschlagen wird, verfinstert sich der Hintergrund und die Geräusche eines tobenden Orkans lassen auch den Zuschauerraum erbeben, während die Totschläger auf der Bühne wie bei einem lustigen, nicht allzu aufregenden, Ballspiel agieren.
Edward Bond hat sein Stück als „fast unverantwortlich optimistisch“ bezeichnet. Es gibt einen Hoffnungsträger unter all den Unmenschen, den jungen Len, der als Einziger imstande ist, sich sozial zu verhalten.
Stefan Stern verkörpert den sensiblen, verträumten Jungen sehr anrührend und überzeugend. Ein Held ist dieser Len ganz gewiss nicht. Er beobachtet die Tötung des Babys und macht keinen Versuch, sie zu verhindern, von der Gewaltaktion ist er sogar fasziniert. Len ist ein Feigling, und doch der einzige Mensch unter lauter Unmenschen, denn Len ist imstande, Andere wahrzunehmen, er hat Schuldgefühle wegen seiner Feigheit und er ist sich einer Verantwortung bewusst, die allen Anderen völlig fremd ist.
Len verliebt sich in Pam und erlebt eine kurze, glückliche Zeit mit ihr. Marie Rosa Tietjen als Pam erscheint selbstbewusst und energisch. Hinter dieser Fassade verbirgt sie ihre Unsicherheit und Unreife. Pam, die noch bei ihren Eltern wohnt, sucht einen Mann, der ihrem Leben eine Richtung gibt und meint, ihn in Fred (Sebastian Schwarz) zu finden.
Fred, schwarz gekleidet, gebärdet sich wie ein Mafioso. Als es ihm selbst an den Kragen geht, entpuppt sich dieser Supermacho jedoch als klägliches Weichei. Fred ist Anführer einer Gang, aber er ist kein asozialer Herumtreiber. Er und seine Freunde haben Arbeit, und Fred hat sogar ein Hobby, er verbringt seine Freizeit mit Angeln.
Pam ist für Fred nur eine belanglose Affaire. Auf eine Beziehung will er sich nicht einlassen, und das Kind, das Pam von ihm bekommt, erkennt er nicht an. Damit will Pam sich nicht abfinden, sie läuft Fred nach und setzt sich immer wieder seinen verletzenden Zurückweisungen aus. Mit ihrem Kind mag sie sich nicht beschäftigen.
Len, der als Untermieter in der Wohnung von Pams Eltern lebt, ist als Einziger um das Baby besorgt, das im Stück nicht einmal einen Namen hat. Für Pams Eltern ist der Familienzuwachs lediglich ein belastender Störfaktor. Erschrocken oder traurig über den Tod des Kindes ist niemand.
Pams Mutter Mary (Steffi Kühnert) dominiert und entmündigt ihren Mann und ihre Tochter. Kommunikation findet in der Familie nicht statt. Gelegentlich wird aneinander vorbei geredet, oder es werden Schimpfworte und Beleidigungen ausgetauscht. Wenn Vater Harry (Thomas Bading) von der Arbeit nach Hause kommt, hockt er sich vor den Fernseher und bemitleidet sich selbst.
Die Familientristesse ist unterhaltsam anzuschauen. Doch trotz Harrys Kobolz über das Sofa, Marys grotesk ungeschicktem Versuch, Len zu verführen und der Teekanne, die Mary auf dem Kopf ihres Mannes zerschlägt, entwickelt sich das Stück nicht zur Farce, sondern behält seinen kritischen Realitätsbezug.
Einen Weg heraus aus der rücksichtslosen Egozentrik, die er der bürgerlichen Gesellschaft der 1960er Jahre vorwirft, hat Edward Bond nicht aufgezeigt. Aber immerhin ist da Len, der die Hoffnung auf Verständnis und Wärme nicht aufgibt, dafür Demütigungen auf sich nimmt und trotzdem weitermacht.
Wenn Stefan Stern am Schluss dasitzt und lächelt, dann ist das doch etwas, auch heute noch.
„Gerettet“ von Edward Bond hatte am 18.02. Premiere in der Schaubühne Berlin. Weitere Vorstellungen: 11., 12., 14. und 17.03.2010.