Wir haben im übrigen nicht den geringsten Anlaß, auch nur einem der geäußerten Gedanken und Folgerungen zu mißtrauen, sondern wollen fast hilflos damit zu erkennen geben, daß wir uns alle von uns vertrauten und dadurch liebgewonnenen Vorstellungen trennen müssen, die für uns Europäer mit unserem eurozentrierten Weltbild gegeben waren. Denn wir alle haben seit Jahrtausenden gelernt, die Welt aus unserer Perspektive zu sehen und ihre Geschehnisse auf uns rückzubeziehen, sei es, daß wir – und damit spreche ich von den Europäern – Eroberungen und Krieg in Gang setzten, sei es, daß wir sie erlitten, sei es daß wir Erfindungen machten, sei es, daß wir sie übernahmen. Das ist erst einmal eine ganz natürlich Betrachtungsweise, wie jeder Mensch vorgeht, alles aus dem eigenen Blickwinkel zu sehen und zu beurteilen, nur war sie bei unserem Wissensstand für die Menschheit schon lange nicht mehr haltbar und die Geschichtswissenschaft hat schon länger die Welt als das komplizierte Geflecht wahrgenommen, das sie ist, wo nicht – und noch nie! – abgeschlossene Völker ihre je eigene Geschichte autochthon erlebten, was in Geschichtswerken wie: Die Inder, Die Chinesen, Die Araber , Die Germanen aber als Anspruch galt. Schon lange, nicht erst seit der Völkerwanderung, wissen wir daß ganze Völkerschaften zumindest Handelsschichten unterwegs waren, daß die Querbeziehungen und gegenseitigen Einflüsse zur Weltgeschichte dazugehören, auch wenn sie noch so schwierig aus den Quellen herauszusuchen sind.
Damit hat die Geschichtswissenschaft nach einem Einschnitt, wie es das Buch des Mediävisten Johannes Fried, „ Vom Schleier der Erinnerung“ darstellt, der letztlich die gesamte Überlieferung nicht mehr wie traditionell als eine Geschichte der Sieger erklärt, sondern das Erinnern und Ritualisieren, das Übernehmen und Weiterschreiben grundsätzlich in Frage stellt, einen nächsten Steinbruch, der unser Weltbild in Frage stellt, was ja sein muß, will man es neu aufbauen und eine globale Weltsicht ermöglichen, was diese sechsbändige Weltgeschichte will. Das Vorhaben des Verlages ist gewaltig und Andreas Auth konnte auf der Basis der 140 000 Mitglieder und einem siebenköpfigen Herausgebergremium, das erst einmal die Abgrenzungen und Inhaltsangaben diskutierte und festlegte, bevor die rund 80 Autoren ans Schreiben gingen, auch auf ein solides Fundament verweisen, das mit der Geschichte der Menschheit schon lange nicht mehr die Geschichte ihrer militärischen Kämpfe in den Mittelpunkt stellt, sondern eben die ihrer Entwicklung unter Einbezug der Anthropologie, der Literatur, der Kunst, der Zeugnisse des Alltagslebens, der Herrschaftsstrukturen, der Besitz- und Erbschaftsverhältnisse, der Sprachentwicklungen und ihrer Zusammenhänge, aber auch die Geschichte der Natur und ihrer tierischen Bewohner. Nur über die Musik, wie die Poesie vor der Alltagssprache geboren, weiß man noch wenig.
Albrecht Jockenhövel schockierte dann bei der Einführung des Bandes I „Grundlagen der globalen Welt – von Beginn bis 1200 c. Chr.“ diejenigen, die noch nicht mitbekommen haben, wie weit der aktuelle Forschungsstand die Besiedelung der Erde durch Menschen inzwischen nach vorne verlegt: Vor etwas 15 bis 6 Millionen Jahren vollzog sich die Trennung vom Menschenaffen, zwischen 3 und 2 Millionen Jahren waren dies die später ausgestorbenen Australopithecinen, die noch Zeitgenossen der bisher definierten frühestens Menschenformen der homo rudolfenis, homo habilis und homo erectus waren. „Derzeit ist der homo rudolfensis mit etwa 2,6 bis 1,8 Millionen Jahren der älteste Mensch“, betonte Jockenhövel, verwies aber darauf, wie sehr die Zeitzonen durch neueste Funde – ganz aktuell ’Ardi` mit 4,4 Millionen Jahren ein Ardipithecus ramidus – ins Rutschen geraten sind. Jockenhövel nannte die Bezugswissenschaften Paläoanthropologie und Archäologie als diejenigen, die derzeit durch ständige Fossilfunde Afrika als Wiege der Menschheit gleich mehrfach – durch Funde und unterschiedliche Typen – bestätigen und anhand von kulturellen Hinterlassenschaften dieses Ergebnis sichern, was ihnen im interdisziplinären Verbund gelingt.
„Doch was zeichnet den Menschen aus? Lange Zeit waren für die Paläoanthropologie der ständig aufrechte Gang, die Bipedie und ein vergrößertes Hirnvolumen, für die prähistorische Archäologie die zielgerichtete Herstellung von Geräten und Werkzeugen die Merkmale, die schon Benjamin Franklin (1706–1790) zu seinem berühmten Satz vom Menschen als einem tool making animal veranlassten. Als man ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der weitverzweigten Familie der Australopithecinen ständig aufrecht gehende Menschenaffen entdeckte, die jedoch – entgegen einer früheren Meinung – noch keine Geräte anfertigten, gab es ein Dilemma in der Definitionsbestimmung.“, faßte Albrecht Jockenhövel eines der Grundproblem zusammen, denn Einigkeit besteht nur in dem Herkommen aller Menschenformen aus Ostafrika. So war es der homo erectus, übrigens schon zwischen 1, 6 bis 1,7 Meter groß und mit ähnlichem Gehirnvolumen wie die späteren Menschen ausgestattet, der immer wieder den afrikanischen Kontinent verließ und sicher den Wanderbewegungen seiner bevorzugten Jagdtiere folgend in weniger als 200 000 Jahren seine Lebensbereiche auf Europa, weite Teile Eurasiens und Ostasiens ausdehnte und über kaltzeitliche Landbrücken bis Indonesien vordrang. Allerdings verschwand auch er mit Beginn des Mittelpaläolithikums aus der Geschichte der frühen Menschheit.
Es kam über noch unklare Zwischenstufen zum Neandertaler, dem „populärsten“ Urmenschen, der dennoch nach heutigen Erkenntnissen „in seiner späten ’klassischen` Ausprägung eine Sackgasse der Evolution“ darstellt. Deshalb wird der anatomisch moderne Mensch – homo sapiens sapiens – nach dem heutigen Forschungsstand als aus dem späten homo erectus entwickelt angesehen, ausschließlich in Afrika und vor etwa 200 000 bis 150 000 Jahren. Wo die Geschichte der Menschheit eigentlich beginnt, brechen wir den informativen Vortrag des Referenten ab, dem sich eine lebhafte Diskussion anschloß, und verweisen auf Band 1 der neuen Weltgeschichte der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft.
WBG Weltgeschichte
Band I, Jockenhövel, Grundlagen der globalen Welt. Vom Beginn bis 1200 v.Chr.
Band II, Lehmann/Schmidt-Glintzer, Antike Welten und neue Reiche. 1200 v.Chr. bis 600 n.Chr.
Über die WBG, die 1949 aus Notwehr zuzusagen gegründet wurde, weil wissenschaftliche Bücher kaum vorhanden waren, und nun von ihre gedruckt wurden, wollen wir ein andermal ausführlich eine Verlagsvorstellung vornehmen.