Berlin, Deutschland (Weltexpress). Als der Kalte Krieg vorüber war, erwarteten alle, dass auch auf westlicher Seite die Strukturen verschwänden, die ihn führten, allen voran die NATO. Aber das Militärbündnis hat sich gerettet und folgt nun wieder genau jenen Zielen, für die es einst gegründet wurde.

Wenn die NATO heute 75 Jahre alt wird, dann ist sie mindestens 35 Jahre älter, als sie hätte werden dürfen. Und sie hat sich zu ihren Anfängen zurückentwickelt – ein Grund, diese Anfänge genauer zu betrachten.

Ein Wehrmachtsgeneral mit Kisten voller Mikrofilme

Die NATO ist ein Produkt, ja, die Verkörperung des Kalten Krieges. Aber um den Kalten Krieg wirklich zu verstehen und nachzuvollziehen, woher die politische Richtung stammt, in die sie sich derzeit wieder bewegt, muss man in das Jahr 1945 zurückgehen.

Es gab während des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten keine einheitliche Linie, sondern auch sehr starke politische Kräfte, die lieber mit Hitler gegen die Sowjetunion Krieg geführt hätten als mit ihr gegen ihn. Diese Kräfte waren auch innerhalb des Apparats der Roosevelt-Regierung vertreten, beispielsweise im damaligen US-Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services), dem Vorläufer der CIA. Zwei prominente Namen tauchen in diesem Zusammenhang auf, die die folgenden Jahrzehnte prägen sollten, die aber schon vor Kriegsbeginn mit den Schnittstellen zwischen deutscher und US-Industrie befasst waren: die Brüder John Foster Dulles und Allen Dulles. Der eine sollte später Außenminister der Vereinigten Staaten, der andere Chef der CIA werden; zu Beginn des Jahres 1945 saßen sie beide in Bern in einer Außenstelle der OSS – und trafen sich mit Vertretern der Nazielite.

Einen Teil dieser Geschichte kann man in der wunderbaren sowjetischen Spionageserie „17 Augenblicke des Frühlings“ sehen, einen Teil dieser Geschichte findet man in Talbots „Schachbrett des Teufels“. Feststeht, dass die beiden Brüder zusammen mit Vertretern der SS und der Nazi-Geheimdienste einen Plan schmiedeten, der großen Teilen der Nazielite den Hals retten sollte, und unter anderem dazu führte, dass in Italien ein SS-General, Himmlers Adjutant Karl Wolff, von amerikanischen Truppen aus italienischer Gefangenschaft befreit wurde. Was den Kalten Krieg betrifft, waren das Wichtigste jedoch Absprachen, die einen General des Nazi-Militärgeheimdienstes betrafen, Reinhard Gehlen, Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“.

Gehlen setzte sich zusammen mit Kisten voller mikroverfilmter Dokumente über die Rote Armee in die bayrischen Berge und ergab sich den Amerikanern. Die Dokumente in den Kisten, das ist inzwischen klar, waren sorgfältig erstellte Fälschungen, die die politische Elite der USA davon überzeugen sollten, dass die Sowjetunion beabsichtige, ganz Europa einzunehmen. Die Tatsache, dass es Fälschungen waren, belegt eindeutig, dass das Verhalten von Gehlen kein Zufall, keine spontane Entscheidung war, sondern Teil eines ausgearbeiteten Plans. Anfänglich drohte er fast, zu scheitern – sowohl in der US-Armee als auch bei den Briten gab es noch größere Mengen Offiziere, die keine Nazis mochten – aber letzten Endes erhielt Gehlen genau den idealen Gesprächspartner, um seine vorbereiteten Schätze an die US-Dienste zu übergeben: Allen Dulles. Schon im August 1945 reiste der Wehrmachtsgeneral mit drei Assistenten nach Washington.

Der US-Historiker Christopher Simpson, der sich in seinem Buch „Blowback“ (auf Deutsch: „Der amerikanische Bumerang“) ausführlich mit den Folgen dieser Begegnung beschäftigt, die am Ende die Politik in den USA selbst veränderte, ist überzeugt, dass es ohne den Inhalt dieser Kisten womöglich keinen Kalten Krieg gegeben hätte, denn der harte und abrupte Schwenk nach dem Tod Roosevelts, der aus dem Verbündeten Sowjetunion den neuen Feind machte, wäre ohne diesen vermeintlich glaubwürdigen Kronzeugen schwer durchsetzbar gewesen. Mehr noch – in den ersten Jahren der CIA bestanden die Informationen über ganz Osteuropa weit überwiegend aus den abgetippten Berichten der „Organisation Gehlen“. Der Chef von „Fremde Heere Ost“ schuf das Bild der Sowjetunion, das zur Gründung der NATO führte.

Von der neuen Politik profitierten beide, Gehlen und Dulles. Dulles lieferte seinen Förderern aus dem sich formierenden militärisch-industriellen Komplex die Garantie für weitere gute Geschäfte (er war schließlich ursprünglich Wirtschaftsanwalt), und Gehlen arrangierte ein sicheres Überleben für viele seiner braunen Spießgesellen – schon bald durfte er einen Trupp von 350 von ihm persönlich ausgesuchten Nazioffizieren in Pullach um sich versammeln, und andernorts wurden ganze SS-Einheiten heimlich aufrechterhalten, um im vermeintlich unmittelbar bevorstehenden nächsten Krieg gegen die „Sowjets“ zu kämpfen.

„Die Sowjets draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten“

Nicht nur seitens der US-Amerikaner, auch seitens der Briten war die Wende zum Kalten Krieg schnell vollzogen und zeigte sich bereits im Griechischen Bürgerkrieg nach 1946 und in der inzwischen unstrittigen Manipulation der italienischen Wahlen 1948 durch die CIA. Der Rest Europas hatte andere Probleme. Während die USA ihre Nähe zu den (auch mit ihrer Hilfe) vielfach unsichtbar gemachten Nazis pflegten, sorgte man sich in Frankreich und den anderen von der Wehrmacht überfallenen Ländern Westeuropas weniger um die Sowjetunion denn um den unmittelbaren Nachbarn Deutschland. 1948 entstand so der Brüsseler Pakt zwischen Frankreich, den Benelux-Ländern und Großbritannien, ein Pakt mit einer Verpflichtung zum wechselseitigen Beistand.

Im Rückblick lässt sich unschwer erkennen, was daran den Vereinigten Staaten nicht gefallen konnte. Die Orientierung auf eine Verteidigung gegen Deutschland war den geostrategischen Zielen der USA nicht nützlich, und die Beteiligung der Briten an diesem Bündnis, ohne die USA, böte sogar diesen eine Möglichkeit, wieder zu der Macht zu gelangen, die die Amerikaner ihnen gerade abgeknöpft hatten. Schließlich war das damals eine wirtschaftlich bedeutende Zusammenstellung.

Das berühmte Zitat vom ersten Generalsekretär der künftigen NATO ist also nicht ganz vollständig, außer, man versteht den Teil „die Amerikaner drin“ gerade als Verhinderung auch jenes ökonomischen Blocks, der sich aus dem Brüsseler Pakt hätte entwickeln können.

Die Frage militärischen Beistands war nur eine Nebenfrage; der Brüsseler Pakt enthält auch Ziele wie „einen höheren Lebensstandard ihrer Völker herbeizuführen“. Die Gründung der NATO 1949 zerteilte im Grunde diese Einheit und verschaffte den USA einen Grund für eine dauerhafte Präsenz in Europa, die andernfalls spätestens mit einer wiederhergestellten deutschen Souveränität hätte enden müssen.

Der wirtschaftliche Teil des Brüsseler Pakts überlebte, ohne die Briten, gewissermaßen in der 1951 gegründeten Montanunion, bei der die westdeutsche Republik beteiligt war; auch in deren Vorwort findet sich noch das Ziel des höheren Lebensstandards, das in den folgenden Jahrzehnten verschwinden sollte. Es gab auch öfter Initiativen für europäische Verteidigungsbündnisse ohne die USA, vor allem von Frankreich, das immerhin einige Jahre lang die NATO verlassen sollte. Aber der politische Plan der USA sah anders aus – Spaltung Deutschlands, Wiederbewaffnung des Westteils und die Formierung Westeuropas zu einem gegen die Sowjetunion gerichteten Militärbündnis.

Wenn man die Rhetorik des Kalten Krieges nicht kennt, wirkt der Vertragstext, der am 4. April 1949 unterzeichnet wurde, unschuldig, denn außer in der Präambel findet sich kein Indiz einer politischen Orientierung. Wenn man aber weiß, dass zu diesem Zeitpunkt das Komitee für unamerikanische Umtriebe in den USA längst den Schrecken einer antikommunistischen Hexenjagd verbreitete und nicht nur deutsche Emigranten aus dem Land trieb. Wenn man weiß, dass die Pläne für die ideologische Aufrüstung unter der Losung „Individualismus gegen Kollektivismus“ schon vorbereitet war, einschließlich des Taschenspielertricks namens „Totalitarismustheorie“, der es schaffte, die erbittertsten Gegner der Nazis mit ihnen gleichzusetzen, dann lesen sich die ersten Sätze dieses Vertrages ganz anders. Und es ist auch klar, dass ein solches Instrument unverzichtbar war, um den deutschen Nachbarländern jene ehemaligen Wehrmachtsgrößen aufzudrücken, denen sie im Rahmen der NATO bald wiederbegegnen sollten.

„Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten.“

Bis aus dem Vertrag eine Bürokratie entstand und eine militärische Kommandostruktur, sollten einige Jahre vergehen. Erst 1952 wurde die Position eines NATO-Generalsekretärs geschaffen, in Paris, schon nicht mehr in London, wo das Bündnis anfänglich beheimatet war. Ismay war der Erste, der diesen Posten innehatte, ein britischer Kolonialoffizier aus dem persönlichen Umfeld von Winston Churchill, welcher übrigens mit Gehlens Sicht auf die Welt völlig konform ging – ihm wird zugeschrieben, nach dem Sieg über Hitler gesagt zu haben: „Wir haben das falsche Schwein geschlachtet.“

Die Wiederkehr der Wehrmachtsgeneräle

Währenddessen war mit der Währungsreform in den Westzonen 1948 und der Gründung der Bundesrepublik aus den drei Westzonen im Mai 1949 die deutsche Spaltung vollzogen worden. Schon davor waren dort die Weichen gestellt worden, um diesen Teil Deutschlands nicht nur in den sich formierenden Westen einzubinden, sondern auch, um eine Wiederbewaffnung zu erzwingen. Der Widerstand gegen diese Wiederbewaffnung war die erste schwere politische Auseinandersetzung in der noch jungen Bundesrepublik, und sie wurde erbittert geführt, nicht nur mit unzähligen Organisationsverboten. Dass politische Streiks in Deutschland verboten sind, im Gegensatz zu allen anderen damaligen westeuropäischen Staaten, ist auf diese Zeit zurückzuführen; das Verbot diente dazu, einen drohenden politischen Generalstreik gegen die Remilitarisierung zu verhindern.

Als die westliche Republik 1955 der NATO beitrat, war dies eine weitere Verstärkung der Spaltung. Zu diesem Zeitpunkt gab es die Bundeswehr noch gar nicht. Aber deren Gründung im Jahr 1956, als eine vollständig nach Westen ausgerichtete Armee, führte auch zu einem Wiederauftauchen einiger Gestalten, die eigentlich als sichtbare, in ihrer Funktion bedeutende Mitglieder der Nazieliten in einer Republik, die sich angeblich vom Hitlerfaschismus gereinigt hatte, keine größeren Rollen mehr hätten spielen dürfen. Tatsächlich waren, nach der SS, die höheren Offiziere der Wehrmacht persönlich vielfach unter die größeren Verbrecher zu zählen; die meisten keine Schreibtischtäter, sondern an Kriegsverbrechen beteiligt. Simpson bringt in seinem Buch viele überzeugende Beispiele.

Auch davor gab es viel Personal aus der zweiten Reihe der Nazis in führenden Positionen der Bundesrepublik; seit Adenauer den Artikel 131 ins Grundgesetz einfügen ließ, waren so gut wie alle Nazibeamten an ihre Schreibtische zurückgekehrt, und bei vielen davon sorgte die Kooperation von Gehlen mit den Amerikanern dafür, dass die Lebensläufe um die braunen (oder eher blutigen) Flecken bereinigt wurden. Theodor Oberländer, Vertriebenenminister unter Adenauer und einst Verbindungsoffizier zwischen der Wehrmacht und dem Bataillon Nachtigall der ukrainischen Nationalisten, ist ein Beispiel dafür.

Aber den bekannten Generälen der Nazis erneut die Kontrolle über Waffen und Soldaten zu geben, das war ein Schritt, der viele mit Abscheu erfüllte. Einer jener, die schon im Vorlauf der Gründung der Bundeswehr wieder beteiligt waren, der dann am 1. April 1961 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses wurde, war Adolf Heusinger. Kein kleines Licht, das verborgen in den Tiefen der Nazihierarchie vor sich hin glomm, sondern der General, der die Angriffspläne entworfen hatte, für den Überfall auf Polen 1939 und vor allem für den Überfall auf die Sowjetunion 1941. Das „Unternehmen Barbarossa“, das am Ende 27 Millionen tote Sowjetbürger hinterließ, entstand auf dem Schreibtisch von Adolf Heusinger. Er kannte den Generalplan Ost, in dem das Ziel einer Vernichtung der slawischen Bevölkerung beschrieben wurde. Und er war bedeutend genug in der militärischen Hierarchie, dass er nur Hitler persönlich Bericht erstattete.

Wenige Menschen hatten 1945 mehr Blut an den Händen als Adolf Heusinger. Aber er machte, wie Gehlen, einen Handel mit den US-Amerikanern, und schaffte es, als Zeuge für die amerikanischen Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess einer Anklage zu entgehen, weshalb er bald wieder verwendbar war, und dann dazu beitragen durfte, auch die NATO im Geiste der Wehrmacht zu formen.

Aus der Sicht der Kalten Krieger eine logische Entscheidung, im Kampf gegen die Sowjetunion, der letztlich die Begründung für die Existenz der NATO war, nicht nur auf die Angriffspläne der Nazis, sondern auch auf ihren Angriffsplaner zurückzugreifen. Die Westbindung, die in der augenblicklichen historischen Erzählung als Rückkehr Deutschlands in die zivilisierte Welt verkauft wird, erfolgte um den Preis einer völligen Rehabilitierung des Nazipersonals und einer Festlegung als designiertes Schlachtfeld. Solange die Sowjetunion existierte, waren die Deutschen für die Rolle vorgesehen, die heute die Ukrainer ausfüllen dürfen – als verzichtbarer Rammbock gegen den Feind im Osten.

So, wie die Mikrofilme aus den Kisten eines Reinhard Gehlen die politische Position gegen die Sowjetunion schaffen halfen, so sorgte Heusinger für einen starken Einfluss der militärischen Strategien der Nazis auf die NATO. Die Wehrmacht war spätestens 1943 zu der Erkenntnis gelangt, dass ein erneuter Versuch einer Unterwerfung Russlands auf die Ressourcen ganz Europas zurückgreifen können müsse. Es ist kein Wunder, dass sich die Interessen jener, die mit dem Überfall von 1941 gescheitert waren, und jener, die aus den USA eine Wiederholung anstrebten, sich vermischten.

Es war allerdings nicht nur Heusinger, der für diesen Einfluss sorgte. Die gesamte Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs, wie sie innerhalb der US-Militärakademien (und in der Folge auch in jenen der NATO) gelehrt wird, stammt aus der Feder von Wehrmachtsgenerälen, die von der US-Armee dafür eingestellt und bezahlt wurden. Den Schatten davon findet man heute noch in der Behauptung, die russische Armee setze Menschenmassen ein, um durch schiere Menge zu überwältigen. Längere Ausführungen dazu finden sich immer wieder bei Andrei Martjanow.

Rund um die NATO, ihre Entstehung, ihre militärische Doktrin findet sich immer wieder jene Mischung aus dem Flügel der US-amerikanischen Politik, der den Nazis freundlich und der Sowjetunion feindlich gegenüberstand, und der mit dem Tod Roosevelts die Macht übernahm, und der zweiten Reihe der Nazielite samt der zugehörigen Hilfstruppen. Dieses giftige Erzeugnis hätte sich nach 1990 einfach auflösen können, schaffte es allerdings, seine Fortexistenz mit Kolonialkriegen zu rechtfertigen. Was aber jetzt, 75 Jahre nach der Gründung, zu sehen ist, ist wie eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Zum „Unternehmen Barbarossa“ und seinen Anhängern auf beiden Seiten des Atlantiks. Nur die Deutschen haben jetzt das Glück, ihre Rolle als Schlachtvieh weitergereicht zu haben.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 4.4.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

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