Dabei gab es hervorragende Projekte zur Wasserversorgung und Energiegewinnung, zur Bildung und zur Förderung des Gesundheitssystems, die Lybien in einer umfassenden Form auf der Basis des Ölexportes modernisierten, wie es zur Zeit der bis 1969 bestehenden lybischen Monarchie undenkbar war. Alles beruhte auf der Ölförderung, die Gaddafi ankurbelte und wesentlich zum eigenen Machtausbau nutzte. Außenpolitische Brutalität í la Lockerby oder die Versuche zum Ausbau eigener Atomkraft- und Giftgasanlagen wurden von Gaddafi flexibel und offensichtlich verläßlich zurückgerudert, um im weltpolitischen Kontext mitreden zu können. In Afrika wurde der selbsternannte „Größte aller Könige Afrikas“ durchweg geachtet, vor allem von seinen Rgierungschefkollegen, die sicher auch seine finanziellen Beteiligungen schätzten und ihm deshalb bis zuletzt zugetan waren – Südafrika ergriff offen Partei für Gaddafi, kein afrikanisches Land beteiligte sich in irgendeiner Form an den Anti-Gaddafi-Aktionen. Noch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhundert war Lybien ein weltpolitisch und wirtschaftlich uninteressanter Wüstenstaat, als Spielball der regional Einfluß nehmenden Araber, Osmanen, Italiener und Engländer, unter deren wechselnder Herrschaft es stand, ohne daß die einzelnen lybischen Wüstenvölker jemals tatsächlich hätten beherrscht werden können. Gaddafi schaffte es, den lybischen Staat real zu etablieren. Er war Lybier mit Herz und Seele und dokumentierte seine Verbundenheit mit den lybischen Sitten auch durch die Art des Residierens: in einem prächtigen Beduinenzelt, das er auch bei Staatsbesuchen stets aufschlug. Ob das Öl sein Verhängnis wurde?
Zumindest war es Teil der Szenerie, in der die USA und Europa den nordafrikanischen Demokratiefrühling in Ägypten und Tunesien auch für Lybien in Schwung brachten. Die Aufforderung Frau Clintons an Gaddafi, endlich zurückzutreten, wurde vom Nato-Eingriff zur Blockierung des Luftraums noch getopt. Diese Blockierung war von der Uno-Resolution in der praktizierten Form eindeutig nicht gedeckt. Alle Angriffe der Nato zielten auf eine Beendigung der Gaddafi-Regierung hin, während die UNO-Resolution den Schutz der Bevölkerung als Ziel definiert hatte; die Situation ähnelte dem Vorgehen der USA im Irak: hier waren ja nicht die in der UNO vorgelegten, falschen Darstellungen der atomaren Bedrohungen durch den Irak, sondern der Griff nach dem strategisch bedeutsamen irakischen Erdöl die machtpolitisch treibende Kraft. Bundeskanzler Schröder htte Deutschland aus dem Irak-Geschehen Gott sei Dank heraushalten können. Außenminister Westerwelle hatte im Falle Lybiens größere Probleme, den Spagat zwischen Nichteinmischung und Bündnistreue plausibel zu machen, da hier die UNO-Resolution den Schutz der Bevölkerung als Ziel der Intervention deklariert hatte. Regierungschefin Merkel hatte die deutsche Haltung definiert, Westerwelle hatte sie gemäß Aufgabenteilung umzusetzen.
Die Macht des Faktischen wurde durch die Angriffe der französischen und britischen Flugzeuge geschaffen und gab das Signal an die USA, daß hier die frazösisch-britischen Ölinteressen Vorrang vor den amerikanischen hatten. Die Jagd auf die Person Gaddafi konnte für die Amerikaner auch keine weiteren Erfolge bringen, da die Drohnensysteme bei Gaddafis verzweigten unterirdischen Tunnelanlagen versagten. Zufall und Verrat – war es wirklich ein 14jähriger fanatischer Todesschütze? – beendeten schließlich das Versteckspiel und das Leben des 42 Jahre über sein Land herrschenden Gaddafi, der noch „kurz“ vor seinem Sturz und Ende auf internationalen Konferenzen hoch geehrt worden war: Besuche und teilweise Gegenbesuche von und bei Staatspräsident Sarkozy, Ministerpräsident Berlusconi, Bundeskanzler Schröder, Premierminister Blair; die Konferenz afrikanischer Staats- und Regierungschefs in Tripolis noch im Juli 2011. Die internationalen Kontakte waren stets geprägt von gegenseitiger Achtung und von dem Willen zur erfolgreichen Anbahnung oder Fortsetzung von Geschäftsbeziehungen. Die Demokratisierungsdemonstrationen kamen Franzosen, Engländern und den USA wie gerufen; zumal sie direkt durch das Menetekel von Saddam Husseins Irak und indirekt durch die Rede Obamas ln Kairo kurz nach seinem Regierungsantritt „in der Luft lagen“. Die Rede des Friedensnobelpreisträgers Obama goß Feuer in die jahrzehntelang stagnierenden, plötzlich als despotisch dargestellten Herrschaftsverhältnisse Nordafrikas und signalisierte die Zustimmung speziell der USA zum Recht auf Demokratisierung in dieser Region. Der Griff der westlichen Weltmächte nach dem lybischen Öl provozierte offensichtlich die lybischen Umsturzaktionen, von deren potentieller Existenz vorher in keiner Weise berichtet worden war.
Es wird sich zeigen, wie die künftigen Regierenden Lybiens eigenständig und demokratisch entscheiden oder von ideologischen und wirtschaftspolitischen internen und externen Zwängen getrieben werden.
Allerdings könnte nur ein Zusammenschluß der arabischen Staaten die Einflußnahme europäischer und amerikanischer Interesse eindämmen, deren strategisches Interesse an den Energiequellen dieser Region z.Zt. „durchregiert“.
Die spannende Frage bleibt jetzt, welche Region Afrikas als nächste den „Schutz“ der USA, Englands oder Frankreichs „benötigt“: Ist es das an Bodenschätzen so reiche Gebiet des Kongo? Ist es das riesige Ölvorräte aufweisende Gebiet Nigerias? In all diesen Gebieten könnte das Argument greifen, daß die Bevölkerung vor undemokratischen Machthabern zu schützen sei. Die ehemaligen (?) Kolonialmächte haben offensichtlich noch nicht gestillte Interessen in ihren ehemals so lukrativen Einflußgebieten, in denen der neue Player USA ebenfalls kräftig mitmischt.