Aber – der Ball ist rund. Jeder konnte im Spanienspiel sehen, das war nicht mehr die vorherige Mannschaft. Die Pässe klappten nicht mehr. Das Team zog sich mehr zurück, liess die Spanier spielen, der Drang nach vorne fehlte. Vieles von dem, was bisher die Mannschaft auszeichnete, war nicht mehr vorhanden oder war nur in Ansätzen zu sehen. Zwischendurch schien es wieder besser zu klappen, dann bekamen die Spanier wieder die Oberhand. Aber nach der ersten Halbzeit war ja noch nichts verloren. Wir alle hofften auf die zweite Halbzeit, auf die Auferstehung. Leider wurde nichts besser. Trotzdem, die Abwehr hielt dicht, oder der Teufelskerl Neuer hielt, oder die Spanier schossen weit drüber – bis auf eine kleine Situation. Das erinnert an diese kleine verwundbare Stelle bei Jungsiegfried oder Achill. Eine Ecke, drei Spanier auf einem Haufen und einer erhielt den Ball und köpfte rein. Warum stand denn niemand dazwischen, etwa ein baumlanger Peer Mertesacker? Die Situation wäre geklärt gewesen und die Verlängerung oder sogar ein Elfmeterschiessen hätten bevorgestanden. Es wirkte, als ob alle es so gewollt hätten, natürlich nicht bewusst. Bewusst wollten alle den Weltmeistertitel.
Sicher, man kann in niemanden hinein schauen, schon gar nicht in eine Mannschaft und deren Gefüge und Zusammenspiel. Dies Gefüge ist wie eine einzelne Person, das Ganze mehr und anders als die Summe der Einzelteile. Erklärungen der Spieler bleiben unzureichend. Wenn die Dinge unsichtbar in der Tiefe bleiben, kann man einen Tiefenpsychologen bemühen wie den Sportpsychologen Andreas Marlowitz, der Hannover 96 nach dem Tod von Robert Enke betreut hatte und in der Frankfurt Rundschau interviewt wurde.
Alle Geschichten haben eine Vorgeschichte. In dieser spielt Michael Ballack eine wichtige Rolle, die Leitfigur, der erfahrene Hoffnungsträger, unersetzlich, Regisseur, Ballverteiler und jederzeit für ein Tor gut. An ihm hätte sich die junge Mannschaft aufbauen können. Aber er wurde im Vorfeld von einem bösen Buben getreten und ist verletzt. Jeder glaubte, die Mannschaft ist massiv geschwächt. Im Gegenteil, wie das? Die Mannschaft spielte wie befreit auf, entwickelte ungeahnte Tugenden, die zwar jeder einzelne Spieler schon vorher in den Vereinen gezeigt hatte, aber alle auf einmal gleich zusammen zeigten? Diese Tugenden in der besonderen Situation einer WM abzurufen, ist eine andere Sache. Yogi Löw scheint der Zaubermann wie ein Yogi, ein indischer Zauberer, zu sein. Andere Mannschaften konnten das nicht und haben nicht einen Yogi, einen derartigen Zauberer.
Jeder weiss, wenn der Platzhirsch nicht mehr vorhanden ist, können die anderen Hirsche sich frei entfalten. Der Platzhirsch stellt für die Anderen eine Bedrohung dar. Einer hemmt alle. Diese Erklärung hat etwas für sich, ist jedoch nicht im Sinne der Mannschaft und deren Ziele. Er soll ein Leithammel sein, an dem sich alle aufbauen und entfalten sollen. Aber in der Realität ist das oft nicht so. In einer Hierarchie können sich nicht alle entfalten. Deswegen wurde ja auch versucht, einen Primus inter pares, eine flache Hierarchie aufzubauen, wo jeder sich frei entfalten kann. Das ist bis zum Spanienspiel gut gelungen. Ohne wenigstens ein bisschen Hierarchie, Kapitän Philipp Lahm und Beisitzer Bastian Schweinsteiger, scheint es nicht zu gehen.
Michael Ballack ist und spielt, wie er ist. Und das sehr gut. Dadurch geriet er ins Rampenlicht, wurde durch die Zuschreibungen der Nation und der Medien zum Hoffnungsträger und zur Leitfigur hochgejubelt. Dafür kann er eigentlich herzlich wenig. Viele wollen sich durch Erfolge berauschen. Wofür eigentlich? Für den grauen Alttag oder die Misere und Zerstrittenheit der Regierung? Im Rausch kann man sich so schön einig sein. Von den Erwartungen, die auf seiner Schulter liegen, schien er schon mehrfach überfordert zu sein und war und ist verletzt. Aber seine Rolle ist nicht nur ihm zuviel, sondern auch der übrigen Mannschaft. Schon 2008 bei der EM wurde er angefeindet, weil die übrige Mannschaft weniger benannt wurde und hinter ihm zurückfiel. Als Reaktion betonen deswegen immer wieder erfolgreiche Spieler, das haben sie der Mannschaft und dem Zuspiel zu verdanken. Das ist auch so.
Nachdem die Mannschaft ihr neues Gefüge der flachen Hierarchie gefunden hatte und erfolgreich war, tauchte Michael Ballack auf, angeblich zur Unterstützung. Wer hatte ihn gerufen? Der Mannschaft war er nicht willkommen. Er störte und das spürend, verschwand er nach ein paar Tagen. Mit dem Ziele, das neue Gefüge zu erhalten, betonte Lahm, dass er auch nach der WM Kapitän bleiben wolle. Sofort wurde ihm Egoismus und Machtanspruch unterstellt und in den Medien breit getreten. Für die Nation und ihr Sprachrohr die Medien war es offenbar eine Ungeheuerlichkeit und Frevel, dass ein neuer Kapitän den Alten vom Sockel stiess. Zumindest war so das Verständnis und Missverständnis, worum es eigentlich geht. Exzellente Fussballspieler sind nach meinem Eindruck trotz ihrer Jugend recht kluge und differenzierte Köpfe. Sonst hätten sie es nicht soweit gebracht. Dort stört eine strenge Hierarchie nur und hemmt die Entwicklung.
Offenbar ging es manchen Leuten darum, in der Person von Ballack die alte Hierarchie wieder herzustellen. Wie viele Teile der Gesellschaft ist der deutsche Fussballverband wahrscheinlich streng hierarchisch organisiert. Die Hierarchie dient dem Machterhalt, ist aber für eine erfolgreiche Mannschaft höchst unproduktiv. Das weiss auch Löw und gerät mit dem Verband in Zwist. Infolge des hochgeputschten Loyalitätskonfliktes und Kuddelmuddels schwante mir vor dem Spanienspiel schon böses. Ich hoffte aber, dass die Mannschaft das verkraftet und sehe darin auch nicht die eigentlichen Ursachen des mässigen Spiels der deutschen Mannschaft.
Höhenflüge haben irgendwann ein Ende. Man denke nur an Ikarus. Je höher diese sind, die Erwartungen ins Unermessliche steigen, desto tiefer ist der Absturz. Jeder weiss, wie nahe Vergöttlichung und Verteufelung nebeneinander liegen. Deswegen schwingt die Angst immer mit, macht den Höhenflug zu einer anstrengenden Sache und führt leicht zu Verkrampfungen. Vielleicht deswegen verkrampfte das deutsche Spiel. An dieser Stelle ist es doch besser und vernünftiger eine Grenze einzuführen und den Höhenflug nicht zu überreizen. Genau das hat die deutsche Mannschaft, wahrscheinlich unbewusst, getan und auf das ersehnte Ziel des Weltmeistertitels klugerweise verzichtet. Wir können viel davon lernen. Ausserdem haben sie genügend Erfolge gehabt, ihren Marktwert erheblich gesteigert und die Chance, im Spiel gegen Uruguay noch einmal frei aufzuspielen. Allerdings Ansätze dieser Form der Regelung, zuerst frei und gekonnt aufspielen, dann die Verkrampfung, gab es schon nach dem Spiel gegen Australien in den Spielen gegen Serbien und Ghana. Das machte Serbien und Spanien stark.
Den neuen Geist der Form des Mannschaftsgeistes und des Verzichts hat wahrscheinlich Klinsmann eingeführt. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges hat er auf eine Fortsetzung verzichtet. Anzunehmen ist, er hatte auch keine Lust mehr, und es nicht nötig, sich mit den Betonköpfen des DFB auseinander zu setzen. In seine Nachfolge und Fusstapfen ist Yogi Löw getreten. Möglicherweise hat er auch Klinsmann inspiriert, ein Ausdruck des neuen sich gegenseitig inspirierenden Teamgeistes. Löw war ja vor der WM schon mit dem DFB in Konflikt geraten. Riesenerfolge hätten seinen Abgang und Verzicht sicherlich erschwert. Niemand hätte das verstanden. Vielleicht hat er als Vorsorge die Devise zu einem zurückhaltenden und vorsichtigen Spiel ausgegeben, die aber der Mannschaft nicht entsprach, so dass sie gehemmt auftrat. Trotz allen Teamgeistes kocht jeder noch an seinem eigenen Süppchen herum.
Erfolge verlangen nach einer Verbesserung und Wiederholung, wie überhaupt der Mensch dazu neigt, nach Verbesserungen, Fortschritt und Aufstieg bis zum Griff nach den Sternen zu streben. Sich mit dem zu bescheiden, was man hat, und das zu geniessen, ist oft wenig drin. Der Schuss kann leicht nach hinten losgehen, da Erfolge zu einer Angst vor dem Misserfolg führen und dadurch der Misserfolg vorprogrammiert ist. So kann der Erfolg schnell zum Fluch werden und in Stress ausarten. Deswegen müssen junge Spieler langsam aufgebaut werden, um sich psychisch an die Fortschritte zu gewöhnen. In Südafrika ging alles mit der jungen Mannschaft viel zu schnell, und sie hat lieber einen Schritt zurück gemacht.
Kommen wir zurück zur Hierarchie, an der sich der Ballack–Lahm-Konflikt entzündete, hinter der das Vater-Sohn-Verhältnis steckt. Um die Hierarchiekonflikte verständlicher zu machen, ist es nützlich, uralte Mythen zu bemühen. Mythen spiegeln in Form von Erzählungen Alltagskonflikte wieder, die damals bestanden und noch heute bestehen, da sich der Mensch trotz aller technischen Fortschritte im Laufe der Jahrtausende wenig verändert hat. Erzählungen nehmen die Brisanz. Die Vater-Sohn-Beziehung ist in der Ödipussage gut veranschaulicht. Der Sohn hatte mehr zufällig in einer Verkettung unglücklicher Umstände seinen ihm nicht bekannten Vater getötet, nachdem der Vater versucht hatte, ihn gezielt zu töten. Nach früheren tragischen Umständen hatte der Vater das Orakel aufgesucht, um durch Vorbeugung Sicherheit zu erlangen. Aber, wie das so oft ist, die Vorbeugung und Abwehrstrategie der Prophezeiung führt gerade dazu, dass die Dinge geschehen können, die vermieden werden sollen, in der Ödipussage, dass der Sohn seinen Vater umbringt und die Mutter heiratet.
Aber, werden Sie sagen, das ist doch nicht unser Alltag! Bei uns bringen die Väter doch nicht ihre Söhne um. Oder doch? Jedenfalls kamen in der Menschheitsgeschichte ungezählte Söhne in den Kriegen um, die die Väter angezettelt haben, und diese konnten die Hoffnung haben, die Mütter für sich alleine zu haben. Zurecht haben folglich die Söhne die Väter zu fürchten. Ein Hintergrund ist, dass die Mütter ihre Söhne oft hochjubeln, diese ihnen wichtiger sind als ihre Männer, also mehr mit dem Sohn als dem Ehemann verheiratet sind. Im Alltag machen oft die Väter die Söhne fertig, die Chefs ihre Untergebenen, entwerten, demütigen sie, lassen sie nicht hochkommen. Warum machen sie das? Vermutlich, weil sie in sich selbst das Alter und den Zerfall sehen und in den Söhnen die Jugend, Attraktivität und Zukunft, also ihr Neid und ihre Missgunst.
Im jungen deutschen Team steckt die Zukunft, vor allem durch ihren attraktiven Fussball. Eigentlich müsste der Ödipuskonflikt zwischen Trainer und Spielern herrschen. Aber es ist im Erfolgsstreben nicht die Aufgabe des Trainers die Spieler nicht hochkommen zu lassen, obwohl auch das noch oft genug geschieht. Zur Lösung dieses uralten Konflikts muss der Autoritätskonflikt auf jemand anderes verschoben werden, hier auf das Bauernopfer Ballack, der im doppelten Sinne verletzt ist. Der Zauberer Löw ist aus dem Schneider, kann sich die Erfolge an seine Brust heften, und seine Söhne können ungeniert frei aufspielen – eine wunderbare, gelungene Lösung.
Sicher, ein Spieler und eine Mannschaft spielen mal besser und mal schlechter, so wie es im Leben auf und ab und hin und her geht. Das alles hängt von vielen Faktoren ab, wo Kleinigkeiten entscheiden können. Man muss nichts Weiteres dahinter sehen. Das bisher Geschriebene kann alles Spekulationen sei, nichts Handfestes. Die Psychologen spinnen sowieso. Aber die Welt ist nicht so simpel, die „weichen“ Daten führen zu harten Fakten, etwa das Image eines Produktes zu handfesten Verkäufen und Gewinnen, und in der Deutung von Hintergründen liegt ein besonderer Reiz.