Früher war mehr Lametta – Gudrun Ritter und Michael Gwisdek tragisch-komisches Leben am „Boxhagener Platz“ im Berlinale Special „Happy Birthday Berlinale!“

 Alle sind sie erloschen, Ottis ehemalige Flammen, ein Ehemann nach dem anderen. Der Sechste (Hermann Beyer) liegt im Bett und dort in den letzten Zügen. „Dein Glück mit den Männern möchte ich haben.“, sagt Ottis Tochter Renate (Meret Becker) neidvoll. Sie ist an den linientreuen Polizeibeamten Klaus-Dieter (Jürgen Vogel) gebunden. Mit ihrer Lebenslust stößt Renate überall auf Mauern, älter und beständiger, als die welche Berlin zerteilt. Nur noch ein Rest Jugend bleibt ihr, um dessen willen sie gegen ihre unerfüllte Ehe und den spießbürgerlichen Mief in ihrem Viertel anrennt. Doch, der „Boxhagener Platz“, um den später Alternative, Hausbesetzer und junge Familien einzogen, war lange eine Beamtenwohngegend. Geschonnck ist intelligent genug, seine feinsinnige Tragikkomödie nicht in nostalgische Schwärmerei verfallen zu lassen. Die Gedrängtheit in den Wohnungen, die tristen Altbauten und die Engstirnigkeit der Anwohner vermitteln eine ungeheure Beschränktheit. Der Weihnachtsbaum von drüben nadelt in der erdrückenden Atmosphäre, so dass er nach einer Nacht kahl und traurig in sein neues Umfeld passt. Da hilft nur Lametta, sehr viel. Darum war früher davon mehr. Die Sprüche mancher Alt-Nazis und die begierig suchenden Blicke der Volkspolizisten nach Republik-Feinden – all dies findet Geschonnk nicht possierlich oder zum lachen. Ausgerechnet hier geschieht ein Mord. Der fette Fisch-Winkler (Horst Krause) hat einen Schlag erhalten, wie er ihn in einer Szene einem Karpfen verpasst. Beide sind nun kalte Fische.

Ottis Gatte stirbt indes eines natürlichen Todes. Ein schwarze Witwe ist Holgers Oma nicht, nur eine notorische eben, deren Herz schon den nächsten Zukünftigen auserkoren hat. Karl (Michael Gwisdek), der Gedichte liest und im Spartakusbund war. Diese Wort und manche andere des älteren Herren beeindrucken Holger. Er wiederholt sie laut und öffentlich, unfähig einzuordnen, welche Konsequenzen es haben könnte. Langsam bahnt sich ein unbeabsichtigter Verrat an. Leise wandelt sich der „Boxhagener Platz“ in einen Kriminalschauplatz und endet als der einer Tragödie, eine der zu leicht vergessenen Alltagstragödien. Holger ist ihr ungewollter Mitinitiator und Chronist, ein Meister des Zuhörens. Oft scheinen die anderen seine Gegenwart zu vergessen, handeln, als wäre er nicht da und machen ihm zum Zuschauer eines skurrilen Alltagstheaters. Nur Otti vergisst Holgers physische Gegenwart nicht und weiß um seine Geistesgegenwart. Sie ist die einzige Freundin des ruhigen Jungen, dem sie die Zuneigung schenkt, die er zu Hause bei seinen streitenden Eltern kaum findet und Mahlzeiten kocht, die so schwer sind, dass Otti lauwarmes Wasser dazu reicht. Sonst wird gerne Hochprozentiges getrunken.

Es ist ein Brauch von altersher, wer Sorgen hat, hat auch Likör. Mit dem trösten sich Renate, ihr Bruder Bodo und Otti. Einmal so reichlich, dass sie an Heiligabend likörisiert zusammensitzen und singen. Wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören, oder muss zumindest. Als es am Lustigsten zugeht, schlägt die Stimmung um. Ein paar unüberlegte Worten und missdeutete Sätze haben sich zu einem fatalen Ganzen zusammen gefügt, wie eines der agitatorischen Flugblätter, die plötzlich über den „Boxhagener Platz“ wehen. Es wird bitterernst, schließlich todernst in Torsten Schulz charmanter Alltagsgeschichte. Otti hat ein Grab mehr zu gießen und der Herbstwind weht weiter über den „Boxhagener Platz“. Nur eine Spur kälter.

Titel: Boxhagener Platz

Berlinale Special „Happy Birthday Berlinale!“

Land/ Jahr: Deutschland 2010

Genre: Tragikkomödie

Regie: Matti Geschonneck

Drehbuch: Torsten Schulz

Darsteller: Gudrun Ritter, Michael Gwisdek, Samuel Schneider, Meret Becker, Jürgen Vogel

Laufzeit: 102 Minuten

Verleih: Pandora

www.pandorafilm.de

Bewertung: ***

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