Freiwillig in den Wahnsinn – Jule Böwe erschüttert als Blanche in „Endstation Sehnsucht“ an der Schaubühne

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Benedict Andrews hat die weibliche Hauptfigur ganz ins Zentrum seiner Inszenierung gestellt. Das Milieu, in dem Blanche bei dem Besuch bei ihrer Schwester landet, ist lediglich skizziert durch die Poker spielenden Männer und die Nachbarin Eunice. Die Straßenbahn mit dem Namen Sehnsucht wird nicht erwähnt.

Für Blanche ist das Alles bedeutungslos. Auf ihrer verzweifelten Suche nach einer Zuflucht nimmt sie nur die Menschen wahr, von denen sie sich, wie von ihrer Schwester und Mitch, Hilfe erhofft und die, von denen sie, wie von Stanley und später auch von Mitch, bedroht wird.

Benedict Andrews sorgt dafür, dass die ZuschauerInnen die Irritationen und Schrecken seiner Heldin gelegentlich selbst erfahren, z.B. wenn sie plötzlich Opfer einer Sinnestäuschung zu sein scheinen, weil Blanche mitsamt dem Stuhl, auf dem sie sitzt, sich mit dem Blick nicht festhalten lässt. Nach einem kurzen Moment der Verunsicherung wird erkennbar, dass der Stuhl auf einer Drehscheibe steht, die sich langsam zu bewegen begonnen hat.

Oder später, wenn Blanche, die sich nur bei gedämpfter Beleuchtung präsentieren mag, von Mitch erbarmungslos grellem Scheinwerferlicht ausgeliefert wird, das auch mehrmals das Publikum erfasst. Es ist unangenehm, unerwartet geblendet und gleichzeitig für alle anderen sichtbar zu werden.

Auch Stanleys Wutausbrüche sind schwer erträglich. Lars Eidinger als Stanley Kowalski ist ja nicht einer, der ab und zu losbrüllt und aus einem Überschwang an Temperament auch mal zuschlägt. Dieser Stanley ist maßlos und eiskalt in seinem Zorn auf alles, was sich ihm in den Weg stellt. Mit einer Handbewegung wischt er das Geschirr von einem gedeckten Tisch, und dann wirft er noch einen Gegenstand und, nach einer Pause, noch einen, und wieder einen, der, wie die anderen, knallend irgendwo landet. Dabei erscheint Stanley wie ein Feldherr, der einen Haufen Revolutionäre niederschießt. Ein gefährlicher Mann, gerade weil er anfänglich ganz sympathisch und harmlos wirkt.

Lars Eidinger gestaltet Stanley als Selfmademan, der alles nimmt, was er kriegen kann, mit eisenhartem Griff festhält, was er besitzt, und sich ganz sicher unter Einsatz seiner Ellenbogen die Karriereleiter hinaufarbeiten wird.

Für Stanley zählt nur, was er anfassen kann. Kultur gehört nicht dazu. Dumm ist dieser Mann jedoch nicht. Außerdem verfügt er über eine gehörige Portion Raffinesse und die notwendigen Kontakte, um seine vornehme Schwägerin Blanche zu entlarven. Die feine Südstaatenlady ist für Stanley eine Feindin, weil sie sich ihm nicht bedingungslos unterwirft. Als er feststellen muss, dass seine Frau, unter dem Einfluss von Blanche, ihn zu kritisieren wagt, ist es für Stanley klar, dass er die Schwägerin vernichten muss.

In der Inszenierung von Benedict Andrews wird deutlich, dass Blanche und Stanley nicht gegensätzliche Pole sind, die sich unvermeidlich anziehen und in deren Vereinigung nur einer überleben kann.

Anfänglich flirtet Blanche mit Stanley, sie baggert ihn sogar an. Was könnte sie auch sonst tun mit einem Mann, mit dem sie keine gemeinsame Gesprächsebene finden kann? Stanley ist davon wenig beeindruckt. Frauen, die die Initiative ergreifen, sind ihm nicht geheuer. Er ist der Jäger. Frauen sind Beute.

In dieser Inszenierung knistert nichts Erotisches zwischen Blanche und Stanley, und Blanche führt auch keinen Krieg gegen ihren Schwager. Sie will sich in Sicherheit bringen vor ihm, und sie will auch ihre Schwester vor diesem brutalen Mann retten. Wenn Stanley schließlich Blanche vergewaltigt, so ist das kein Akt sexueller Begierde, sondern ein kriegerischer Vernichtungsschlag gegen ein wehrloses Opfer.

Lea Draeger ist Stanleys Frau Stella, die, wie ihre Schwester Blanche, auf dem Familienbesitz in den Südstaaten zu einer kultivierten Dame erzogen wurde mit dem Ziel, einen honorigen Herrn zu heiraten. Stella ist von zu Hause weggegangen und hat den nicht standesgemäßen Stanley geheiratet, mit dem sie allerdings glücklich ist.

Lea Draeger spielt sehr überzeugend eine Kindfrau, die ihren Daddy gefunden hat, der sie beschützt, umsorgt und manchmal auch verprügelt. Stella ist, wie ihre Schwester, eine Meisterin der Verdrängung. Stella besteht darauf, dass ihr Leben in Ordnung ist. Zweifel lässt sie nicht an sich herankommen.

Und doch verändert sich Stellas Einstellung durch die wachsende Vertrautheit mit ihrer Schwester. Es gibt einige sehr schöne Momente, in denen Jule Böwe und Lea Draeger so  ausgelassen und unbeschwert herumalbern, als seien sie noch die jungen Mädchen, die auf dem Landsitz Belle Reve gelebt haben. Trotzdem bleibt Stella bei ihrem Mann und hilft ihm, Blanche in eine Irrenanstalt zu schaffen.

Eine letzte Hoffnung auf Rettung scheint sich für Blanche zu bieten, als Mitch, einer von Stanleys Pokerfreunden, sich in die kultivierte, versponnene Lehrerin verliebt und sie heiraten will.

Jörg Hartmann gestaltet Mitch als verklemmtes Muttersöhnchen, nicht unsympathisch, sehr viel zarter besaitet als Stanley, aber kein Mensch mit einer großen Seele, sondern ein Feigling, der nach Stanleys Pfeife tanzt, ein kleiner Spießer, dem eine Frau mit Vergangenheit als Ehefrau nicht gut genug ist.

Blanche Dubois ist eine wunderbare Rolle, in der eine Schauspielerin in Manierismen schwelgen kann. Jule Böwe macht das hervorragend in der ersten Szene, wenn sie sich gibt wie eine Diva, ohne Punkt und Komma redet, ihre Schwester nicht zu Wort kommen lässt, auf Fragen antwortet, die gar nicht gestellt wurden, und immer wieder, so beiläufig wie möglich, einen Schluck aus der Flasche nimmt.

Die exaltierte Fassade, die Jule Böwe anfänglich so brillant präsentiert, erscheint auch später noch ab und zu, obwohl sie immer mehr zerbröckelt. Dahinter wird jedoch nicht nur der Verfall einer lallenden Alkoholikerin und von Schreckensvisionen geplagten psychisch Kranken sichtbar. Jule Böwes Blanche verwandelt sich auch in eine ganz normale junge Frau, die sich voller Aufregung auf ihrer Hochzeit freut, und erlebt einen poetischen Traum in der kurzen, zauberhaften Szene mit Vincent Redetzki als liebenswert-schüchternem Zeitungsboten.

Blanche belügt ihre Mitmenschen unentwegt, und doch ist sie wahrhaftig in ihren Gefühlen, und sie kämpft gegen den Verlust ihrer Träume.

Nachdem Mitch versucht hat, sie zu vergewaltigen, steigert Blanche sich in die Vorstellung hinein, ein früherer Verehrer wolle sie zu einer Kreuzfahrt abholen. Herausgeputzt wie eine Faschingsprinzessin wartet sie auf ihren Helden. Sie ist voller Angst, aber noch hat sie sich nicht ganz aufgegeben, noch ist sie lebendig. Und dann erscheint nicht der Retter, sondern Stanley, der Vergewaltiger.

Die Vergewaltigungsszene ist in Benedict Andrews’ Inszenierung weder zu sehen noch zu hören. Auf ein Blackout nach Stanleys letztem Satz folgt eine quälende Pause.

Wenn das Licht wieder angeht, sitzt da, ganz im Hintergrund, eine Frau, die nicht mehr Blanche DuBois ist. Sie hat ihren Glanz verloren. Ihre Haare hängen strähnig herunter, und sie trägt eine Hose und eine Jacke, die aus der Altkleidersammlung stammen könnten. Aber nicht nur Blanches Äußeres hat sich vollständig verändert. Die Frau, die verängstigt am Rand der Bühne entlang schleicht, besitzt keine Haltung und keine Würde. Sie geht vornüber gebeugt mit hochgezogenen Schultern, als wolle sie in sich selbst hineinkriechen.

Vor dem Arzt und der Pflegerin läuft Blanche davon, flieht wie ein verängstigtes Tier. Als aber der Arzt ihr die Hand entgegenstreckt, geht Blanche zu ihm und lässt sich an seinem Arm hinausführen. In diesem Moment scheint die Angst von Blanche abzufallen. Ihr Blick wird starr und leblos. Blanche DuBois hat sich entschlossen, die Welt, in der sie nicht leben darf, nicht mehr wahrzunehmen.

Jule Böwe gestaltet die Figur der Blanche mit atemberaubender Intensität und lässt, bei aller Zerrissenheit und Verzweiflung, immer auch den inneren Reichtum, das Außerordentliche dieser Frau lebendig werden.

Jule Böwes Darstellung entspricht dem, was Elia Kazan, der 1947 die Uraufführung des Stücks inszenierte, geschrieben hat: „Wir erleben das Endstadium der Auflösung einer wertvollen Persönlichkeit, die einmal große Möglichkeiten in sich trug, und die selbst in ihrem Verfall an Wert noch die ’gesunden’ grobkörnigen Menschen überragt, die sie töten.“

„Endstation Sehnsucht“ von Tenessee Williams hatte am 30.04. Premiere an der Schaubühne Berlin. Weitere Vorstellungen: 05.-07.; 16., 17. und 22.-24. Mai 2009.

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