„Familienleben“ von Rosa Hannah Ziegler auf der Berlinale oder „Meine Träume, ach so fern…“

"Familienleben" ("Family Life") von Regisseurin Rosa Hannah Ziegler. © Matteo Cocco

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Alle sehnen sich nach Liebe, jeder auf seine Art – wie sich eine deutsche Familie, am Rande des Existenz, durch innere Unwägbarkeiten und Zerrissenheiten auf die Suche begibt nach einem annehmbaren Leben.

In diesem Jahr werden auf der 68. Berlinale zahlreiche gesellschafts- und sozialkritische Dokumentarfilme gezeigt. Viele in der Sektion Panorama. In einer Welt, wie der heutigen, die von zahlreichen Unruhen geprägt ist und lange Verschüttetes an die Oberfläche spült, ist das ein wichtiger Spiegel der Gesellschaft und das weltweit. Ein notwendiger und differenzierter Blick hinter jegliche Fassade.

In dem Dokumentarfilm „Familienleben“ widmet mit sich die Filmemacherin Rosa Hannah Ziegler dem Mikrokosmos Familie und spricht auf behutsame Weise an, was oft zu kurz kommt in Zeiten von Wettkampf und Internet – Mitgefühl und Verständnis.

Die Regisseurin begleitet in „Familienleben“- behutsam und respektvoll – eine vierköpfige Familie aus Sachsen-Anhalt, in ihrem Alltag, ihren Auseinandersetzungen mit sich selbst und untereinander, ihren Schicksalen und Beziehungsproblem, der ersten Liebe, Geldnöten, Arbeit auf dem Hof und immer wieder ihrem Wunsch nach Angenommen sein, ihrem Scheitern an sich selbst und ihrem Hoffnungen, Träumen und Sehnsüchten.

Auf einem Bauernhof leben Biggi und Alfred gemeinsam mit ihren zwei pubertierenden Töchtern Denise und Saskia. Umgeben von Hunden und Pferden und meist mit dem obligatorischen Cowboyhut auf dem Kopf träumen die Beiden von einer Westernstadt oder einer eigenen Pferdezucht.

Doch die Realität in diesem ländlichen Idyll sieht anders aus. Biggi und Alfred sind kein Paar mehr. Beiden bemühen sich den pubertierenden Mädchen Stabilität zu vermitteln, werden jedoch von eigenen Ängsten und Unsicherheiten immer wieder eingeholt. Das Leben der beiden Töchter ist geprägt von erster Liebe und Liebeskummer, Panikattacken und Mobbing in der Schule. Die Erwachsenen, selbst verfangen in ihren eigenen unverarbeiteten Kindheitserfahrungen, geben ihr Bestes den Töchtern Geborgenheit und Halt zu vermitteln. Alfred lässt seine Wut und Jähzorn beim handwerklichen Arbeiten heraus, alle suchen Trost bei den Tieren.

Niemand weiß hier genau, wo er hingehört.

Die beiden Töchter waren bereits im Heim, genau wie die Mutter und Vater als Kinder. Am Rande der Gesellschaft, in ihrem ländlichen Idyll, sucht die Familie ihr Leben zu meistern, zwischen Institutionen und Beziehungsproblemen immer umgeben im Kreis der Tieren.

„Tiere können dich nicht betrügen, sie verarschen dich nicht“, sagt Alfred. „Das Schlimmste ist, wenn deine Liebe von anderen nicht wirklich angenommen werden kann. Das ist schlimmer als ein Messer im Rücken.“

„Words don’t come easy“ schallt es aus dem Laptop und steht so symptomatisch für die Sehnsucht nach stabilen Bindungen und den Hoffnungen und Scheitern an diesen Wünschen.

Die Kamera begleitet die Protagonisten behutsam, meist aus einer respektvollen Distanz, um ein authentisches Bild der Familie einfangen zu können. In anderen Szenen sprechen die Figuren aus dem Off von ihren Erfahrungen, während sie mitsingend bei ihren Lieblingsliedern vor ihrem Laptop sitzen oder ihre Hunde auf dem Sofa kraulen.

Ein halbes Jahr haben sich die Regisseurin und der Kameramann Zeit gelassen, die Familie kennenzulernen – ohne zu filmen. Das wird im Film spürbar. Das Vertrauen und der Mut der Handelnden, sich auch in ihren Verletzlichkeiten und Schwächen zu zeigen, ist beeindruckend. Immer begleitet durch den liebevollen und respektvollen Blick der Filmemacherin und des Kameramannes. Der Zuschauer kommt den Protagonisten nahe und wird berührt von ihren inneren Kämpfen und Schicksalen. Die Tragik des Wiederholungszwanges der Erwachsenen eigene traumatische Kindheitserfahrungen wieder zu durchleben und an die Kinder ungewollt weiterzugeben, wird auf sensible Weise nachvollziehbar.

Dabei ist die gesamte Familie sehr reflektiert und offenbart mit großer Offenheit ihre persönlichen Gedanken und Erlebnisse dem Betrachtenden.

Der Regisseurin Rosa Hannah Ziegler gelingt es ein würdevolles Bild von Menschen zu zeichnen, die trotz aller Widrigkeiten ihre Träume nicht aufgeben, ihre Verletzlichkeiten offenbaren und sich so als starke Persönlichkeiten zeigen.
Es ist ein melancholischer Film, der immer wieder von Optimismus durchzogen ist und Hoffnung zulässt. Die Realität einer Familie und einzelner Menschen wird auf starke Weise sichtbar – weitab von entblößendem Voyeurismus und dennoch von einer unabdingbaren Ehrlichkeit.

Ein sehenswerter Dokumentarfilm auf der diesjährigen Berlinale, der um Verständnis wirbt, Aufklärung betreibt und Menschen und ihre Schicksale auf berührende und fast beiläufige Weise nahebringt.

Filmografische Angaben

Originaltitel: Familienleben
Land: Deutschland
Jahr: 2018
Genre: Dokumentarische Form
Regie/Buch: Rosa Hannah Ziegler
Kamera: Matteo Cocco
Musik: August Braatz
Produzentin: Roswitha Ziegler
Dauer: 96 Minuten, Farbe

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