Aus dem jungen Talent ist ein Großer geworden, ein versierter Schriftsteller mit der Gabe, zu verzaubern. Melancholie wummert durch die Zeilen wie ein dumpfer Bass, darüber flimmert selbst in düsteren Szenen etwas Goldglanz. Bei Kubiczek wirkt alles unmittelbar, soeben aus Erlebtem geschöpft und umgegossen in die Figur des empfindsamen Ichs.
Ein Junge wächst in einer Plattenbau-Siedlung heran, Hubertusdamm, Potsdam. Was normale Kindheit scheint, ist zerbrechlich. Da ist die fremd-aussehende Mutter-Prinzessin mit den schmalen Augen, dem schwarzen Haar. Es gibt den Unfall. Der kleine Bruder wird schwer verletzt. Die Mutter stirbt viel zu früh. Und eine, besser zwei Liebesgeschichten verrinnen. So viele Fragen offen.
André Kubiczek kehrt nach fünf Romanen an seine Wurzeln zurück und geht noch viel weiter als in seinem Debüt „Junge Talente“. Moskau, Vientiane. Berlin und wieder der Harz. Die Beschreibung von dieser (sterbenden) Industrielandschaft und ihren Menschen gehört zu den anrührendsten Szenen des Buches. Die Reise der Hauptfigur nach Laos bleibt traumverhaftet, wie die Odyssee der Mutter. Exotisch, geheimnisvoll und traurig. Sehr diesseitig und direkt sind die Schilderungen aus der Armeezeit, die Fahnenapelle und langen Sonntag-Nachmittage in einer Plattensiedlung – da irrt der Verlag, wenn im Bei-Text des Umschlags behauptet wird, Kubiczek erzähle von einem Ostdeutschland, wie es kaum einer kennt. So kannten es Millionen. Sie alle werden dieses Buch lieben. Und doch geht der voluminöse Roman weit über den kleinen DDR-Horizont hinaus, schöpft eine Parabel vom Fremd-Sein in der Welt, vom Umgang mit Unglück und Glück.
Wenn glücklich sein in einem Moment enthalten ist, gab es den vielleicht am Nachmittag eines perfekten Sommertages in den Siebzigern, als der Großvater den kleinen „Kubi“ auf einen Tresenstuhl im Klubhaus der Hüttenwerker setzt und ihm ein Glas Fassbrause bestellt.
„Dort lehrte er mich nicht nur, Häuser aus Bierdeckeln zu stapeln, sondern vermittelte mir ein Wissen, das mir im Laufe meines Lebens noch einmal nützlich sein könnte: dass Paris die schönste Stadt sei, die es auf der Welt gäbe”¦ dass die Ostfront das genaue Gegenteil des Frankreichfeldzuges gewesen sei”¦ dass Italiener Feiglinge im Kampf seien, auf die man sich nicht verlassen könne”¦“
Prädikat: Besonders wertvoll!
André Kubiczek, Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn, Roman, 480 S., Piper-Verlag, München Zürich, 2012, 22,99 €