Emigration – das ist der sichere Tod

© Foto: Dr. Wolfgang Schacht

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Mit großer Aufmerksamkeit und mit großem Interesse verfolgen wir die Nachrichten, Beiträge und Diskussionen großer Politiker, Journalisten, Philosophen, Dichter, Schriftsteller, Musiker, Sänger und Künstler der Russischen Föderation zu aktuellen Fragen und Problemen unserer Zeit. Natürlich in jeder Stunde des Tages! Natürlich immer aktuell und in russischer Sprache! Natürlich in voller Übereinstimmung mit der Verfassung der DDR und getreu unserem geleisteten Schwur in unserer Pionierorganisation „Ernst Thälmann“, in unserer Jugendorganisation FDJ, in unserer Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft, in unserer Nationalen Volksarmee, an den Gräbern und Ehrenmalen der für die Befreiung Europas vom Faschismus gefallenen Sowjetsoldaten! Natürlich immer im Geiste unserer ungebrochenen aufrichtigen Freundschaft mit Russland, mit seinen mehr als 190 Völkern.

Der Beitrag des bekannten russischen Theaterregisseurs Konstantin Bogomolov [1] „Ich sterbe, aber ihr werdet bleiben“ regt ohne Zweifel viele Menschen zum intensiven Nachdenken an. In seinem Text untersucht er die Themen „Heimat“ und „Emigration“ und stellt unter anderem die Frage, „Warum ist bei vielen, insbesondere bei vielen ausgereisten russischen Menschen der Wunsch entstanden, dass in dem Land, das sie verlassen haben, alles schlecht wird und das Russland unausweichlich zum Untergang verurteilt ist?“. Kommt uns DDR-Bürgern das nicht irgendwie bekannt vor?

Bogomolov schreibt: Sie sind einfach weggefahren. Sehr verschiedene Menschen. Irgendwer sofort, irgendwer später. Irgendwer aus Angst vor Verfolgung, irgendwer im Schreck oder in Panik. Irgendwer verließ sein Land auf eigenes Risiko. Irgendwer völlig kopflos. Irgendwer dient bereits anderen Herren. Irgendwer gibt Interviews mit einem unterschiedlichen Grad der Aufrichtigkeit. Irgendwer ist für immer weggefahren, irgendwer nur zeitweilig. Aber dieses „zeitweilige“ verwandelt sich sehr schnell in eine Flucht „für immer“. Sie verließen ihre Wohnungen, ließen ihre nächsten Angehörigen im Stich, ihre Haustiere, ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Pflanzen, die gegossen werden müssen, ihre verstaubten Bücher.

Über die Gründe dieser Emigration sprechen wir an dieser Stelle nicht. Dafür gibt es wahrscheinlich unendlich viele. Es ist allein der Versuch, sich mit der ganzen Verkommenheit dieser neuen „Umsiedler“ vertraut zu machen. Aller? Natürlich nicht! Manche Immunität blockiert den schrecklichen Virus. Aber trotzdem ist und bleibt es eine Epidemie.

Die Emigration ist eine Krankheit, sie greift das Gehirn an, die Psyche und den Körper. Äußerlich und energetisch ist sie mit altersbedingten Veränderungen verwandt. Nicht immer ist sofort klar, was in diesem Menschen vor sich geht. Als ob er verzerrte Gesichtszüge hat. Oder ist das nur eine schlechte Maske? Ein Psychologe würde behaupten, das ist eine Altersdepression. Müde von der Familie, erschöpft von der Arbeit und genervt von den Kindern. Einfach eine Krise. Der Emigrant betrinkt sich oft, beschwert sich ständig. Hohe Reizbarkeit! Wut und Verzweiflung. Ein Mangel an Ironie – die typische Folge eines Herzinfarkts. Einen Herzinfarkt gab es nicht, nur eine Umsiedlung. Kann die Umsiedlung als Herzinfarkt betrachtet werden? Das Problem besteht darin, dass derartige Erscheinungen und Anzeichen sogar bei Jungen und Mädchen auftreten, die in ihrem Alter nicht das geringste Bedürfnis haben, Moralapostel zu spielen. So wie ältere Damen junge Mädchen wegen ihrer unbeschwerten Jugend hassen, so blickt der russische Emigrant – egal in welchem Alter – mit beispielloser Bosheit und Feindseligkeit auf jeden in seiner Heimat verbliebenen Russen, der weiterhin dort lebt, arbeitet, glückliche Kinder hat und Zukunftspläne schmiedet.

Frühes Altern und Heuchelei einst ironischer Menschen ist an sich kein Problem. Erschreckend sind jedoch die ungesunde Rötung der Wangen und die bösartig funkelnden Augen der Nachrichtensprecher von Auswandermedien zu sehen, wenn sie über blutige Kämpfe im Gebiet von Belgorod berichten. Diese Schadenfreude ist zwar leise, kaum spürbar, doch für alle Fernsehzuschauer offensichtlich. Wie groß wird die Aufregung und Freude angesichts bestimmter Vorahnungen über geplante Unruhen in Moskau sein? Wie offensichtlich ist die Ekstase über jedes Scheitern von „Moskau“ (so nennen die Emigranten jetzt Russland!).

Wenn die Gründe für den „Widerstand“ gegen die Heimat verständlich sind, dann denkt irgendjemand wirklich so, oder irgendjemand ist einfach in eine neue Realität „verpackt“, in der er jeden Tag als Erster die Hand heben muss, um seine „richtige“ Position zu beweisen. Damit entsteht ein kollektives inneres Glücksgefühl bei Nachrichten über physische Leiden oder materielle Not der eigenen Landsleute. Was ist das für ein seltsames Phänomen? Ist das eine zum Verrat tendierende Gemeinheit? Ist das grenzenlose Dummheit? Oder ist das nur ein Trauma durch die Trennung von der eigenen Heimat? Wie beim Stalking verfolgen die „Umsiedler“ extrem aufmerksam das Leben ihrer Landsleute in Russland, sammeln penetrant mit großer Genugtuung alle ihre Niederlagen und Misserfolge in einer speziellen Ablage. Früher quälte die Emigranten nur die Sehnsucht nach ihrer Heimat, nach ihrem Mütterchen Russland. Der gegenwärtige „Umsiedler“ freut sich über Probleme in Russland. Belgorod wird von der Ukraine angegriffen. Hurra! Ein Gefühl der Freude und Wärme breitet sich in seinem Körper aus. Ein Herz für ihre Mitmenschen haben sie schon lange nicht mehr! Die Panik von russischen Menschen in Schebekino führt bei ihnen zu wahren Freudentänzen, der Tod eines russischen Soldaten wirkt auf sie wie ein starkes Beruhigungsmittel, … Anstelle eines beruhigenden Schlafliedes ist über Moskau das Summen von Drohnen zu hören.

Was ist das? Warum gibt es bei vielen Menschen, die ihr Land verlassen, den Wunsch, dass die Lebensbedingungen in ihrer Heimat schlecht werden? Damit das menschliche Leben im größten und schönsten Land der Welt aufhört zu existieren? Wie ist eine derartige Beziehung zur Heimat und zum eigenen Haus, zu seinen Mitmenschen überhaupt möglich?

Wir sprechen nicht über irgendeine Ideologie, sagt Bogomolov. Tatsache ist, es handelt sich um unsere Heimat, um unser Mütterchen Russland. Es ist völlig egal, wie stark die Emigranten die Behörden in ihrem Land hassen, es ist und bleibt immer ihr Land. Wer kann seinem Land etwas Böses wünschen? Wer kann sich freuen, wenn sein Land Probleme und Schmerzen hat? Leider gibt es sie! Sie wünschen unserem Land und ihren Menschen den Untergang und den Tod! Was ist mit ihnen geschehen?

Was erlebt jeder Sterbende, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht? Schmerz? Manchmal, ja! Angst? Vielleicht! Güte und Freude? Manchmal, ja! Es passiert, es ist unvermeidlich, es muss sein! Das Allerschlimmste ist jedoch die Gewissheit, ich werde sterben, aber alle anderen werden am Leben bleiben!

Werden die Blumen in den Gärten wie immer blühen, werden die Menschen wie immer lachen, trinken, essen und feiern, werden sie sich in Cafés treffen, ins Theater gehen? Werden sie wie bisher gute Filme drehen, werden Bücher geschrieben, gedruckt und … gelesen? Werden die Menschen sich freuen und ihr Leben wie bisher genießen?

Ohne Zweifel, alles wird so sein wie bisher. Es ist beängstigend. Es ist das Schmerzlichste im Leben überhaupt – das Vorwort zum Tod. Es wird von jedem gelesen, der mit dem Studium des Totenbuches beginnen muss. Und dieses Vorwort ist eine größere Prüfung als der Tod selbst. Denn der Tod ist schon kein Schrecken mehr, sondern ein Loslassen von diesem schwierigen psychologischen Erlebnis – der Strom wird abgeschaltet, das Licht geht aus und die ewige Dunkelheit bricht an.

Emigration ist der gleiche Tod. Sie ist der Übergang in eine andere Welt. Sie ist ein Abschied – eine totale Verabschiedung vom früheren Leben. Aber das ist ein ganz besonderer Tod. Ein Tod, der schlimmer ist als der wahre Tod. Denn es ist ein Tod ohne Verlust des Gedächtnisses, des Sehens, des Hörens und der Fähigkeit die Welt wahrzunehmen, zu denken und zu fühlen.

Dieser Tod bedeutet die irdischen Grenzen zu verlassen, aber die Fähigkeit zu bewahren, alles zu sehen, was im eigenen Land, in der eigenen Stadt, im eigenen Dorf, im eigenen Haus, d.h. in der wahren russischen Welt geschieht – natürlich immer ohne dort selbst zu sein.

Das ist der Tod als Fluch. Der Tod als Strafe. Der Tod als Prüfung.

Gehen oder nicht gehen? Es ist, als ob man unsichtbar und unhörbar wird, aber trotzdem unter Menschen bleiben möchte. Seinen Menschen! Die alles fühlen und verstehen! Sie hängen praktisch zwischen Hölle und Himmelreich, zwischen Himmel und Erde, zwischen Sein und Nichtsein.

Es ist ein Sterben und Sehen, wie das Leben weitergeht.

Sie finden nicht das Himmelreich, sie tauchen nicht in das Feuer der Hölle, sie ziehen nicht in einen anderen Körper um, sie zersetzen sich nicht in der feuchten Erde, denn sie bleiben bei Bewusstsein ein Mensch mit seinen Leidenschaften, mit allen seinen Lastern und Sünden, mit seinen Wünschen und Ambitionen, als würde man Körper und Leib verlieren. Sie werden unsichtbar, immateriell und nicht mehr wahrnehmbar.

Die Menschen in Russland sehen die Emigranten nicht, aber die Emigranten sehen sie. Die Menschen in Russland hören die Emigranten nicht, aber die Emigranten hören sie.

Sie – die Emigranten – sehen, hören und spüren, dass dort, wo sie nicht mehr sind, Gras und Kinder wachsen, dass an ihren Arbeitsplatz neue Menschen kommen. Besser oder schlechter – das spielt schon keine Rolle mehr. Die Hauptsache ist, dass sie kommen und sie vergessen. Völlig! Für immer und ewig! Egal wer sie auch sein mögen. Weil sie für die Menschen an einem konkreten Ort gestorben und vergessen sind, an dem sie bisher als untrennbares Subjekt der Heimat geliebt und vergöttert wurden.

Das Leben gedeiht auch dort, wo – wie es zunächst schien – die Ausreise der Emigranten die Erde bereits verbrannt hat, sagt Bogomolov.

Vladimir Nabokov [2] zählt ohne Zweifel zu den einflussreichsten Erzählern des 20. Jahrhunderts. In seinem genialen Theaterstück „Ereignis“ (Sobytie) macht er sehr böse und grausame Bemerkungen über die russische Welt in Berlin. Allen, die Russland verlassen haben bzw. es verlassen wollen wird dringend empfohlen, sich mit dem Text dieses Theaterstücks vertraut zu machen.

Es ist ein Theaterstück über tote Menschen. Über eine Zeit, die offensichtlich stehengeblieben ist. Einmal – sagt Bogomolov – habe ich dieses Stück, das Lieblingsstück meines Meisters Andrey Goncharov im Moskauer Kunsttheater, benannt nach A. P. Tschechow, inszeniert. Heute veröffentliche ich im Bronnoi eine Aufführung basierend auf Gorkis „Sommerbewohner“. Über dieses Stück, oder besser gesagt über die Menschen dieses Stücks, sagte Goncharov: Sie sind völlig bedeutungslos, wie Blasen auf dem Wasser. Dies ist ein Stück über die gleichen Auswanderer – über gebildete russische Auswanderer – oder modern ausgedrückt über Vertreter der „kreativen Klasse“, die den Kontakt zum Land völlig verloren haben und im Laufe der Zeit die müßigen Sommertage mit sinnlosen Überlegungen und vulgären Intrigen verbringen. In meinem Auftritt, sagt Goncharov, geht es auch um Menschen, die den Kontakt zur Zeit und zu ihrer Heimat verloren haben. Über die russischen Bewohner des „Herrenhauses“, über das ich kürzlich geschrieben habe, die im warmen Klima der südlichen Länder im Wohlstand und Komfort sterben.

Über den tragischen Bogen der 80er und 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts schreibt Konstantin Bogomolov:

Emigration – das ist der Tod. Der schmerzhafteste Tod, den es gibt. Es ist ein Tod mitten im Leben.

  • Sind Sie aus Russland?
  • Ja!
  • Wie geht es Ihnen?
  • Gut!

Und dann dieser merkwürdige Blick – Misstrauen, Zweifel, das Gefühl, dass man lügen muss. Das kann nicht gut sein. Wie kann man sich dabei gut fühlen. Ganz einfach, sagt Bogomolov: „ES KANN NICHT SEIN!“

Deshalb gibt es diese kindische, lustige und zugleich hässliche Freude, die ein Auswanderer nicht verbergen kann, wenn Raketen oder Drohnen das Territorium seines Landes treffen und zerstören, wenn seine Mitmenschen schwer verwundet und sogar getötet werden. Die Welt, die er verlassen hat, darf nicht weiter existieren. Warum? Weil er selbst bereits gestorben ist!

Joseph Brodsky [3] liebte die Stadt der Toten. Er ist förmlich durch sie gewandert. Es war, als ob er den tieferen Sinn und die Bedeutung der Auswanderung verstanden hat. Demütig und sehr delikat überlebte er den Tod. Zerstörte Durchblutung und langsames Ertrinken, schreibt Bogomolov.

Die gegenwärtigen Auswanderer sind keine Brodskys. Seine Auswanderung war ruhig und traurig. Brodsky war gesprächig und sehr emotional. Viele seiner Interviews sind verzweifelte Schreie um Hilfe, bzw. Versuche, sich im Raum des Lebens zu orientieren und neu zu definieren.

Aber auch sie waren Schreie ins Leere. Nicht, weil die Ohren seiner russischen Landsleute mit Watte vollgestopft waren. Nein, keineswegs! Sondern weil derartige Interviews im Ausland eine seltsame Eigenschaft besitzen – sie erfolgen aus einer dunklen, fremden und feindlichen Welt.

Der Mensch spricht über etwas für ihn sehr Wichtiges, Schmerzhaftes, Quälendes, aber aus seinem Mund kommen nur Luftblasen.

Er sieht aus wie ein Schauspieler, dem jedoch niemand glauben kann (siehe System Stanislawski!). Auch wenn er weint und sich sein Hemd vom Leibe reißt, blicken wir kalt und gleichgültig auf ihn. Denn es geht nicht um unsere Gefühle, unsere Sorgen, unsere Probleme, sondern allein um die Gefühle derer, die zum Vergessen verurteilt sind. Sie haben mit unserem Leben nichts mehr zu tun. Gar nichts! Ja, sie leiden, aber wir haben keine Möglichkeit ihnen zu helfen.

Zum Thema „Interview von Schauspielern“ möchte ich Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, einen bescheidenen Rat geben. Schauspieler sollten keine Interviews geben. Sie sprechen zwar ihre eigenen Worte, aber „ihre eigenen Worte“ sind bei ihnen immer die Worte eines Fremden. Sie reden über Moral, über Gut und Böse, über Ehrlichkeit, doch jahrzehntelanges Spielen und künstliche Nachahmung haben ihre Körper und Gesichter zu einem Instrument der Täuschung gemacht. Wenn diese Menschen versuchen von sich selbst zu sprechen, dann scheint es, dass sie nur ein großes Schauspiel fortsetzen. Sie schweigen auf dramatische Art und Weise, vergießen kaum eine überflüssige Träne, übertönen mit ihren Ausrufen den ganzen Saal. Und alles dies ist schlecht, schlecht, schlecht. Darüber hinaus träumt ein Schauspieler oft von einer Rolle, wird aber aufgefordert, eine andere zu spielen. Ein Komiker träumt von einer tragischen Rolle, eine hartgesottene Dame möchte als Turgenjew-Mädchen oder schlimmstenfalls als dramatische Sünderin Tschechows auftreten, und ein Mann mit einen dummen Blick, aber großem Temperament strebt sicherlich nach Shakespeares Tiefen.

Das Problem liegt nicht nur im mangelnden Talent einiger Vertreter dieses alten Berufes, sondern auch darin, dass die Vorstellung, dass ein „Schauspieler“ ein Vertreter einer Kulturschicht sei, nur die hässliche Geburt eines „philosophischen Dampfschiffes“ ist. In den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts zerstörten oder vertrieben die Kommunisten große russische Denker, Intellektuelle und Menschen, die in der Lage waren, Gedanken zu entwickeln, schriftlich gut zu formulieren und dem Volk überzeugend darzulegen. Als die Frage entstand, wer in der neuen Realität dafür verantwortlich sein würde, im Namen der russischen Kultur zu sprechen, hat sich Stalin einen Trick ausgedacht, der hinsichtlich seines Zynismus wohl kaum zu überbieten ist: Mögen die Vertreter eines der korruptesten Berufszweiges zur Stimme der russischen Intelligenz werden. Auf der Grundlage dieses Gedankens wurde sehr schnell das Institut der verdienten Volksschauspieler gegründet. Sehr bequem: Die meisten ihrer Menschen sind schlecht ausgebildet, aufgeblasen, dumm und ehrgeizig. Sie sind es gewohnt, fremde Texte vorzutragen. Es fällt ihnen nicht schwer, schnell die Position zu wechseln, der Stimme den richtigen Klang und Pathos zu geben, Gefühle anzuregen, mit den Augen zu strahlen, anzuklagen und zu bereuen. So erlangten die Schauspieler in den sowjetischen Jahren den Status einer kulturellen Elite und des Gewissens der Nation. Denken wir immer daran, wenn wir russische Schauspielerinnen und Schauspieler in europäischen Medien sehen, die vor der Kamera als Interviewer von Emigranten aus Russland über die schreckliche „Spezielle militärische Operation Russlands“ in der Ukraine zu ihrer Demilitarisierung und Denazifizierung ihre „aufrichtige“ Empörung erheben und viele Krokodilstränen vergießen. Wir glauben ihnen kein Wort, geschweige denn ihren Tränen.

Die Auswanderung aus einem Land bedeutet nicht nur das Verlassen eines Territoriums. Sie ist de facto auch ein Austritt aus der gegenwärtigen Zeit und Realität. Denn die Echtheit der Zeit kann nur im eigenen Land (Raum) gelebt und erlebt werden.

Für einen Künstler ist die Auswanderung das Ende, d.h. der Tod seines Talents. Denn das Talent lebt von den Säften der einheimischen Sprache, der einheimischen Kultur, in einheimischen Räumen und Landschaften, mit einheimischen Geräuschen und Gerüchen. Viel zu wenige der ausgewanderten Künstler haben in der Vergangenheit und werden auch in der Zukunft ihren Platz und ihre Stimme in fremden Kulturen finden. Auch wenn er noch eine Chance hat, seinen Kummer in entsprechende Kunstwerke zu verwandeln, wird er außerhalb einer wahren kreativen Welt letztendlich verbittern und scheitern.

Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass das historische Gedächtnis in der gleichen Art und Weise funktioniert. Der russische Mensch ist es gewohnt, aus seiner Vergangenheit „auszuwandern“. Endlose Regimewechsel haben ihn gelehrt, alte Brücken abzubrennen. Jede neue Ära will die Erinnerung an die vorangegangene zerstören, bricht beleidigt alle Verbindungen zur Vergangenheit ab, baut das Leben neu auf, brennt alles nieder, was vorher war. Und das macht jeden neuen Versuch, eine bessere Zukunft aufzubauen, so erfolglos. Deshalb sind die Augen aller neuen „Bolschewiken“, die versuchen, eine neue schöne Welt aufzubauen und dabei die Werte der Vergangenheit auszulöschen unweigerlich leer und tot.

Wie können wir als Lebende verstehen, dass es unmöglich ist mit der Vergangenheit zu brechen, ohne zu sterben.

Es ist unmöglich sein Land zu verlassen und es dann noch weiter zu verstehen und zu fühlen.

Unser Heimatland ist keine Abstraktion und kein Bild. Heimat, das sind unsere engsten Verwandten. Motherland – in der deutschen Sprache bedeutet es Vaterland – verschwindet in Europa, weil es Grenzen de facto dort nicht gibt. Für den russischen Menschen bedeutet dieser Begriff jedoch sehr viel. Deshalb kann ein Russe freiwillig an eine Auswanderung nicht denken. Er betrachtet die Heimat nicht als soziales Projekt oder als eine Art Chef, der für ihn alles entscheidet, sondern als Teil von sich selbst. Deshalb kann er seine Heimat freiwillig nicht verlassen. Deshalb verlässt er auch nicht seine Wohnung, lässt seine nächsten Angehörigen nicht im Stich, füttert seine Haustiere, erfüllt gewissenhaft seine Arbeit, trifft sich regelmäßig mit seinen Freunden, gießt seine Pflanzen, entstaubt seine Bücher usw. usw. usw.

Völlig unabhängig von den Umständen können sich die Russen auch nicht an der Zerstörung ihres Mutterlandes beteiligen.

Natürlich nur, wenn sie/er wirklich ein russischer Mensch ist. Genauer gesagt, wenn sie/er ein Mensch ist. Denn dieses Heimatgefühl ist nicht national. Es ist menschlich. Weil einem Menschen nicht zwei Leben geschenkt werden, wird es für ihn auch keine zwei Heimaten geben.

Denn Mutterland – das ist das Leben. Aber Emigration – das ist der sichere Tod.

Und der Tod muss wie das Leben in Würde gelebt werden, meint nicht nur Konstantin Bogomolov.

Ein Nachruf für die DDR-Bürger

Der DDR-Bürger ist in der Regel nicht emigriert. Gute Statistiken – wenn es sie überhaupt gibt – belegen diese Tatsache sehr anschaulich (Bild 1) [4].

Emigration in die BRD von 1961 bis 1990 (Bild 1). © Grafik: Dr. Wolfgang Schacht

Klammern wir die Jahre 1989 und 1990 aus (die Grenze war de facto schon offen), dann folgt aus den offiziellen statistischen Daten ein prozentualer Mittelwert der Emigration von 0,130 % der Bevölkerung der DDR, d.h. bei einer mittleren Bevölkerungszahl von 16.900.485 im Verlaufe von 28 Jahren ergibt sich eine mittlere Auswanderungsrate von rund 22.000 DDR-Bürgern pro Jahr. Angesichts des Alters- und der Bildungsstruktur der Emigranten, die unseren sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat verlassen haben, hatte selbst dieser relativ niedrige Wert negative Auswirkungen auf unsere Stimmung im Land, auf unser Erscheinungsbild, auf unsere Entwicklung.

Bis heute ist nicht verständlich, warum unsere Regierung dem hartnäckigen Wunsch potentieller Emigranten nach Ausreise in die BRD nicht entsprochen hat und ihnen nach Zahlung einer bestimmten Gebühr für die bisher erhaltene kostenlose Schul-, Fach- und Hochschulausbildung grünes Licht für die Reise in den Westen gab. „Reisende soll man nicht aufhalten“, lautet eine uralte Weisheit. Ohne Zweifel wären viele Emigranten schon nach relativ kurzer Zeit wieder in die DDR zurückgekehrt … und hätten ihren Verwandten als echte Zeitzeugen erzählen können, wie unmenschlich das Leben in der kolonial-nazistischen BRD tatsächlich ist. Schade, dass diese Chance nicht genutzt wurde. Hinterher ist man immer klüger! Solche klugen Köpfe wie die gegenwärtige Mannschaft in Russland unter der Führung von Vladimir Putin gab es damals offensichtlich nicht.

Die DDR war von 1949 bis 1990 immer der bessere Teil des ehemaligen Deutschlands, weil

  • sie es gewagt hat, nach dem heldenhaften Sieg der Sowjetunion über den barbarischen Hitlerfaschismus in Europa eine Gesellschaft ohne den menschenfeindlichen und menschenverachtenden Kapitalismus, ohne Ausbeutung, ohne nazistische Ideologie und ohne die von Gott berufenen „Führungskräfte“ der europäischen Aristokratie erfolgreich aufzubauen. Die von den Alliierten festgelegte Denazifizierung und Demilitarisierung wurde im sowjetischen Besatzungsgebiet (DDR) konsequent durchgeführt. Die BRD wurde rein „zufällig“ zu einem Sammelbecken der alten und neuen nazistischen Brut.
  • sie eine beispiellose Solidarität mit allen vom Kapitalismus unterdrückten und ausgebeuteten Ländern und Völkern geleistet hat.
  • sie den Menschen in der Geschichte erstmals die Möglichkeit erschloss, eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, in der sich gute zwischenmenschliche Beziehungen und normale Umgangsformen zwischen den Generationen entwickeln konnten.
  • es 40 Jahre gesicherte und gut bezahlte Arbeitsplätze, klare Perspektiven, große soziale Sicherheit und keine Zukunftsangst gab. Armut, Hunger, Not und Obdachlosigkeit gab es nicht.
  • unsere Bürgerinnen und Bürger alle Arten und Leistungen (prophylaktische, diagnostische, therapeutische und rehabilitative) der medizinischen Behandlung und Betreuung kostenlos erhalten haben. Eine Zweiklassengesellschaft (Privat- und Kassenpatienten) gab es nicht.
  • sie weltweit eines der besten und leistungsfähigsten Bildungssysteme geschaffen hat. Für alle Bürger der Republik gab es gleiche Bildungschancen (Bild 2) [5], unabhängig von Rasse, Geschlecht und sozialer Herkunft.
Bildungssystem DDR (Bild 2). © Grafik: Dr. Wolfgang Schacht

die Bildung vom Kindergarten bis zur Universität/ Hochschule war praktisch kostenlos. Alle materiellen Schranken, die in der Vergangenheit zur Aufrechterhaltung des bürgerlichen Bildungsprivilegs beigetragen hatten, wurden beseitigt. Es gab Schulgeld- und Gebührenfreiheit, die Unterrichtsmittel waren kostenlos, die Studenten erhielten in Abhängigkeit von ihrer materiellen Lage ein Stipendium. Ein Streben nach guten Kenntnissen und ein solides Wissen in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften war nicht zu übersehen. Das Bildungssystem der DDR wurde von Finnland übernommen, von Deutschland nicht!

  • es unserer Nationale Volksarmee (am 1. März 1956 gegründet) mehr als 34 Jahre gelang, den Frieden in Europa zu sichern. Nach der Annexion der DDR durch die BRD wurde vom aggressiven NATO-Block am 24. März 1999 die Republik Jugoslawien völkerrechtswidrig bombardiert (Übung der USA in Vorbereitung auf die geplante Zerstücklung Russlands).
  • die Symbolfigur des antifaschistischen Kampfes gegen den Hitlerfaschismus immer unser Ernst Thälmann war und niemals ein Herr Graf von Stauffenberg. Schon 1933 kämpfte Ernst Thälmann gegen den Machtantritt von Adolf Hitler. Von ihm stammen die berühmten Worte „Wer Hitler wählt, der wählt den Krieg!“. Nach 11 Jahren grausamer Haft im Gefängnis und im Zuchthaus wurde er 1944 von den Faschisten umgebracht. Ohne Gerichtsurteil! Herr Graf von Stauffenberg war in all diesen Jahren ein treuer Anhänger von Adolf Hitler. Bis zum Attentat auf ihn am 20. Juli 1944. Mit diesem Anschlag wollte Stauffenberg auf dem Wege eines separaten Friedens mit dem Westen den Einmarsch der Sowjetarmee in Deutschland verhindern. Von einem antifaschistischen Widerstand des Herrn Graf von Stauffenberg kann deshalb nicht einmal die Rede sein!
  • weil die Entwicklung und Pflege der Sprache, Literatur, Kultur und Kunst allein auf das Glück und Wohl des Volkes ausgerichtet war. Chauvinismus und Nationalismus, Rassen- und Völkerhass, Kolonialismus und Nazismus, die bisher verhängnisvoll Geist und Ziele der spätbürgerlichen deutschen Kultur und des deutschen Lebens bestimmten, wurden ein für alle Mal die Grundlagen entzogen. Eine totale Fälschung und Verzerrung der Geschichte, die Prostitution als offizielles Gewerbe, Gewalt und Pornographie, eine gesetzliche Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, pervertierten Feminismus, Gender-Mainstreaming, juvenile Justiz, offizieller Drogen- und Alkoholkonsum, destruktive Subkulturen und Sekten gab es nicht. Mann und Frau waren erstmals in der Geschichte Deutschlands gleichberechtigt! Das Wohl der Familie stand immer im Mittelpunkt der Gesellschaft.

Völlig unverständlich ist aus heutiger Sicht die Annexion der DDR durch die BRD (von manchen Dummköpfen auch Vereinigung genannt) im Jahre 1990. Was hat sich die Regierung der DDR dabei gedacht? Hatte sie wirklich keine andere Option als die Vereinigung mit einem nazistischen Land? Warum wurden keine langfristigen Verhandlungen eingeleitet? Z. B. ein Antrag für die Aufnahme der DDR in die EU? Um etwas Zeit zu gewinnen! Natürlich sind das alles dumme und völlig überflüssige Fragen. Die an den Tag gelegte Hektik beweist, auf beiden Seiten saßen bereits die richtigen Leute für die langfristig geplante Annexion der DDR unter der Führung der Angelsachsen (USA und Großbritannien). Der Gedanke an die „Vereinigung des deutschen Vaterlandes“ ist völlig absurd, weil solche Gefühlsduseleien völlig fehl am Platze sind. Denn der Kapitalist strebt immer nach Profit, aber nicht nach einem vereinten Vaterland! Die BRD – seit 1952 Mitgliedsland der EU – war außerdem auf dem besten Wege, alle Begriffe, Inhalte und die gesamte Symbolik eines nationalen „Vaterlandes“ Schritt für Schritt abzubauen.

Die einzige Schlussfolgerung ist: Wir sind – ob wir es wollen oder nicht – in die kolonial-nazistische BRD emigriert! Diese Emigration – das ist der sichere Tod. Die DDR – das war und ist unser Leben!

Auch der Tod muss wie das Leben in Würde gelebt werden, meinen wir.

Literaturquellen:

[1] Я умру, а Вы останетесь? https://ria.ru/20230707/emigranty-1882594523.html

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/vladimir_Nabokov

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Brodsky

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Demokratische_Republik

[5] Deutsche Demokratische Republik, Handbuch, VEB Verlage Enzyklopädie Leipzig, 1979

Anmerkung:

Der Beitrag von Dr. Wolfgang Schacht vom 2.9.2023 wurde auf der Heimatseite https://www.dr-schacht.com im Weltnetz erstveröffentlicht.

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Dr. Wolfgang Schacht
Steinkohlenhauer in Zwickau; Freiwilligendienst bei der Nationalen Volksarmee; Ingenieur für Gasfortleitung und Gasverteilung; Dipl.-Ing. für Maschinen- und Energietechnik; Promotion in Moskau; Berater der DDR im RGW, Abt. Kohleindustrie, in Moskau; Leiter der Netzleitstelle in der GV Thüringen