Stralsund, Zecherin, Deutschland (Weltexpress). Schauplatz Steinerne Fischbrücke im Stralsunder Nordhafen. Stille ringsum. Sogar die sonst so kessen Möwen halten ihren Schnabel an diesem finsteren Oktobermorgen. Bis ein ohrenbetäubendes Zischen mit darauf folgendem Bullern und Poltern den Vorhang zerreißt. Dahinter duckt sich, wo sonst nur edle Kreuzfahrtschiffe liegen, ein merkwürdig aussehendes Wassergefährt: auch urlaubshell, aber statt eines Sonnendecks mit Liegestühlen, Behältern, Rohren und Pumpen. Am Heck der Name: „Odin“ und sein Heimathafen Uetersen bei Hamburg. Ein Blick auf die App „Marinetraffic“ und man hat´s: ein Gastanker, 1964 gebaut und 1989 vom Frachter in einen Tanker verwandelt, 47 Meter lang, 6,61 Meter breit, 1,80 Meter Tiefgang, 205 Ladetonnen.
Zukunft Ammoniak
Eine Tür öffnet sich an der Steuerbordseite, ein Kopf schaut heraus. Er habe gerade die Maschine gestartet, stellt sich Andreas Einhorn vor und wischt seine Hände mit einem Putzlappen ab, „deshalb das zischende Druckluftgeräusch“. Allmählich beruhigt sich der 350 PS-Sechszylinder und geht in einen ruhigen Lauf über. Als Seelotse Jens Schwarze mit einem gut gelaunten „Moin!“ an Bord kommt, meint Schiffsführer Maik Schröter: „Dann wollen wir mal…“ Und Schwarze staunt, „denn ein Schiff aus Nordrhein-Westfalen, dazu noch einen Tanker, hab ich noch nie gehabt“.
In Stralsund ist die in vornehmem Hellgrau glänzende „Odin“ zwei Tage lang der Star vor dem Ozeaneum gewesen. Anlass war das Energiewende-Symposion „Campfire“ vom Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e.V. (INP) in Greifswald, erfährt man von Schröters Kapitäns-Kollege Andreas. Die Tagung stand unter dem Motto „Wind und Wasser zu Ammoniak“. Das soll im Offshore-Bereich aus Windkraft und Wasser gewonnen werden – deshalb „grünes“ Ammoniak – und später auch als emissionsfreier Schiffsantrieb eingesetzt werden können. „Dem Ammoniak gehört die Zukunft“, ist sich die bis Stettin mitfahrende Schiffseignerin Kerstin Malchow aus Uetersen sicher. Darüber wollten sich auch 50 Tagungsteilnehmer direkt an Bord informieren und die Sicherheitseinrichtungen besichtigen.
Wolgaster Brücke unterfahren
05.20 Uhr: grünes Licht voraus. Die Ziegelgrabenbrücke reckt sich müde in den Morgenhimmel: Auftakt einer langen Reise zum Laden bis nach Ludwigshafen am Rhein. „Acht bis zehn Tage werden wir wohl unterwegs sein“, rechnet Schröter vor, der das Schiff vorsichtig in die schmale Durchfahrt einfädelt. „Der Südwestwind von sechs bis sieben Beaufort drückt gegen das Vorschiff“, sorgt sich Jens Schwarze, der den Kurs des Tankers ständig im Blick hat: auf den Displays und mit wachen Augen durch die Brückenfenster.
Am ungeschützten Übergang des Strelasunds in den Greifswalder Bodden pfeift der Wind um die Aufbauten, während sich der Himmel zur Morgenröte verfärbt. Die See zieht weiße Schaumstreifen über das von der aufgehenden Sonne vergoldete Wasser, dessen Wellen sich klatschend am Rumpf brechen und in die Luft geschleudert werden. „Odin“ wiegt sich hin und her als würde ihr dieser Tanz Spaß machen. Nachdem der schmale Knaakrücken hinter ihr liegt, schlüpft sie zwischen Freest und Peenemünde in den ruhigen Peenestrom. „Odin“ macht sich vor der Wolgaster Brücke klein – Masten gelegt und Steuerhaus versenkt – und gleitet unter ihr hindurch. „Oben kein Stau durch uns, und wir haben Zeit gewonnen“, freut sich die Zwei-Mann-Crew. Lotse Schwarze winkt noch zum Abschied, begrüßt seinen ab Grenze vorgeschriebenen polnischen Kollegen, steigt in ein Taxi und fährt zur Station Freest seinem nächsten Job entgegen, der draußen auf der Ostsee im Anmarsch ist.
Tückische Moderortrinne
Auf dem Peenestrom bei Rankwitz zeigt die elektronische Seekarte einen Gegenkommer an, der sich bald auch ins Sichtfeld schiebt: das sachsen-anhaltinische Flusskreuzfahrtschiff „Sans Souci“ von der Saale, das auf dem Weg zur Übernachtung in Wolgast ist. „Das wär jetzt die Chance für dich“, meint Maik Schröter spontan, „von Stettin kommst Du heute sowieso nicht mehr nach Stralsund“. Kurz entschlossen greift er zum Telefon und ruft seinen Kollegen Peter Grunewald über Funk: „Ich stoppe auf, halte ´Odin` gegen den Wind und Du kommst langsam längsseits ohne anzulegen. Dann steigt unser Gast über.“ „Sans Souci“ ist einverstanden. Er hält auf das Tonnenpaar zu, das die berüchtigte Moderortrinne markiert. Bei Niedrigwasser wie jetzt ist sie heimtückisch flach, voller Modder und schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden wie vor einiger Zeit dem Frachter „Dömitz“ aus Anklam.
„Sans Souci“ wird vom Winde seitlich verweht, aber Kapitän Grunewald fängt seinen 83-Meter-Dampfer wieder ein und steuert ihn mit großem Fingerspitzengefühl bis auf einen Meter an den gestoppt treibenden Tanker heran. Seine beiden Matrosen stehen bereit, um zuzupacken, die Fender hängen auf beiden Schiffen außenbords, falls es doch zu einer Berührung kommen sollte. Ein Sprung und alles ist erledigt. Zuschauer an Land könnten eine Kollision vermutet haben.
Beide Schiffe suchen sofort das Weite vor der Untiefe. „Willkommen wieder mal im Norden!“, wird Peter Grunewald begrüßt, dessen erste coronabedingte Reise 2021 von Berlin nach Vorpommern dies ist.