Berlin, Deutschland (Weltexpress). Gut drei Meter hoch ist das stählerne, mit spitzen Zacken bewehrte Rolltor. Die Klingel zu drücken, zwecklos, denn niemand reagiert um diese Zeit. Wie „Rudi Ratlos“ steht man davor.
Kein Schiff weit und breit, stattdessen endlose Industriehallen und ein Güterzug. Hinter dem recken sich scherenschnittartig Kräne aus lokaler Produktion in den Abendhimmel. Zu DDR-Zeiten ein Exportschlager des VEB Krankbau in der Stadt am Finowkanal. Angekommen im Binnenhafen von Eberswalde bei Kilometer 67 der HOW, besser bekannt als Havel-Oder-Wasserstraße.
Plötzlich biegt ein PKW um die Ecke. Der Fahrer entpuppt sich als Schiffsführer des gesuchten Binnen-Motorgüterschiffes CALBE, dem letzten Boizenburger Original Großplauer-Mass-Frachter von 1961. An Bord geht´s jetzt im bequemen SUV-Sitz. „Normalerweise“, erklärt Anton Magner, „werden die Schiffer mit einer Chipkarte fürs Tor ausgestattet, aber nach Feierabend muss man sehen, wie man hier reinkommt“, erklärt Anton, genannt Toni, und stoppt am Kanalufer neben einem Lukensüll, überragt von einem hohen weißen Klotz. „Das ist unsere Ladung“, zeigt er mit ausgestrecktem Arm auf den monströsen 11,50 Meter langen, 4,30 Meter breiten und 5,60 Meter hohen Stahlkasten, „das Maschinenhaus eines Krans. Dies Schwergutteil wiegt nur 66 Tonnen, deshalb mussten noch 170 Tonnen Ballast-Sand und 130 Tonnen Wasser zugeladen werden, um den Tiefgang wegen niedriger Brücken zu erhöhen. Die sind maximal 4,47 Meter hoch“. Das Schiff sei wegen seiner drei Räume für sperrige und gewichtige Projektladung besonders geeignet. „Mit der CALBE haben wir auf diese Weise fast alle schiffbaren Flüsse Europas befahren“, erfährt man so nebenbei, „vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee mit Überwinterung im Eis, von der Nordsee bis zu den Schweizer Alpen“. Dadurch seien unendlich viele LKW-Ladungen mit entsprechender Umweltverschmutzung vermieden worden. „Und alles noch mit der ersten Originalmaschine von 1961!“, ist der CALBE-Eigner stolz auf das Produkt des VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“ in Magdeburg, „die läuft und läuft, nicht totzukriegen. Natürlich musste sie überholt – und manches Teil ausgewechselt werden“. Eine Maschinen-Überholung zum Beispiel schlug früher und heute mit fünfstelligen Summen zu Buche. Das sollte erst mal als Partikulier verdient werden!
Schiff aus dem Effeff
Nach dem Einrichten in der blitzblanken Original-DDR-möblierten Vorschiff-Wohnung, zu der noch eine zweite Kammer samt Küche, Dusche und Toilette gehört, ist dann „Dienstbesprechung“ in der Messe des Achterausbaus angesagt. „Bootsfrau“ Sylvia Magner, sie hat von der Pike auf das Binnenschifferhandwerk gelernt und ist heute Steuermann ohne Patent, serviert eine leckere Suppe: „Heute nur eine Kleinigkeit, weil wir auch spät gekommen sind“. Bei Radeberger Pils erfährt der Gast mehr: Auslaufen am nächsten Morgen, Fahrt durch Berlin-Spandau auf der UHW, ausgeschrieben Untere-Havel-Wasserstraße, wahrscheinlich bis zum ersten Übernachtungsplatz in Potsdam-Nedlitz, der früheren DDR-Grenzkontrollstelle. Das Kranteil sei für ein Seeschiff in Bremen bestimmt, das Israel zum Ziel habe. Wegen einer Schleusensperrung auf der Weser soll der 730 Kilometer lange Weg über den Mittelland-, den Dortmund-Ems- und den Küstenkanal in den Neustädter Hafen der Hansestadt führen.
Zwischen dem Pichelswerder Gemünd und Potsdam kommen wir ins Gespräch von A wie Anfang bis Z wie Zukunft, denn auf der Unterhavel ist bis auf ein paar Segler und die BVG-Fähre Wannsee nichts los. Da kann er das Ruder schon mal in Mittschiffsstellung belassen und sich auf das Gespräch konzentrieren. Ansonsten gilt nach wie vor der Satz: „Seefahrt ist eine Wissenschaft, Binnenschifffahrt eine Kunst!“ Wer lange genug enge Kanäle, flache Flüsse und ständig Schleusen gefahren sei, könne das unterschreiben, ist sich Toni sicher. Das auf dem Oder-Havel-Kanal als Schubverband entgegen kommende Motorschiff West-Oder 1 mit einem Riesenloch am Backbord-Steven ist auf der Weser Opfer einer Kollision geworden. Die Ursachen sind zwar spekulativ, aber Fachleute wie Toni machen sich natürlich ihren Reim drauf: „Mangelhafte Kommunikation und Fahrfehler, vielleicht auch Müdigkeit“.
Zwei Jahre lernte Anton Magner auf der berufsbildenden Schule in Schönebeck/Elbe und bestand erfolgreich die Prüfung zum Matrosen in der Binnenschifffahrt. Eigentlich wollten er und sein Kapitäns-Bruder Johann bei der Deutschen Seereederei (DSR) zur See fahren, wurden aber wegen „Eintragungen in der Kaderakte“ abgelehnt. Im Klartext: Sie entsprachen nicht den politischen Vorstellungen der Genossen.
Nach dem 18-monatigen Wehrdienst hieß es erst mal Fahrtzeit sammeln. Siehe da: Mit 22 konnte ihm das Steuermanns-Patent ausgehändigt werden, mit 23 schon das Schiffsführer-Patent samt Maschinen- und Radarzeugnis. „Ich übernahm damit Verantwortung – und die Calbe“, sagt er rückblickend. Damals kannte er schon seine Frau Sylvia, eine geborene Rüganerin, mit der er seither unterwegs ist: „Das ist schon ´ne lange Zeit!“ Bereits in der ersten Schleuse Lehnitz bei Oranienburg sieht man, wie gut das Team aus dem früher „Klein Hamburg“ genannten Schifferdorf Bittkau an der Elbe funktioniert. Da sitzt jeder Handgriff, wenn Sylvia mit Leinen, Drähten und Fendern hantiert. Sie vertrauen einander, „was so mit einem Fremden nicht funktioniert“, weiß Toni, gebürtiger Oberschlesier, aus Erfahrung. Er kennt auch sein Schiff aus dem Effeff, das er nach der Wende über die Treuhand von der Deutschen Binnenreederei kaufte. Selbst das DDR-Fernsehen, später der MDR, hatten die Calbe und ihre ungewöhnliche Familie, die komplett von der Schifffahrt lebte, schon im Fokus. Ein Filmabend im „Salon“ macht das deutlich. Tochter Manuela fasste darin in kindlicher Manier treffend zusammen, welche multifunktionale Rolle ihre Mama Sylvia spielte: „Sie kocht, steuert, schmiert ab, pflegt das Schiff, macht fest und wäscht – eben eine Mutti für alles“. Sie und ihr Bruder Mathias, der später auch das Patent machte und Sozialpädagoge wurde, lebten bis zum Schulbeginn mit ihren Eltern auf der Calbe, dann im Internat für Schifferkinder.
Landleben genießen
Mit der Romantik des Films „Unter den Brücken…“ von 1944 und den Hauptdarstellern Carl Raddatz und Gustav Knuth indes hatte das alles rein gar nichts zu tun. Johann, der das Schwesterschiff Muskau fuhr und später ins Flusskreuzfahrtgeschäft wechselte, Sylvia und Toni nur für eine Saison – meinen übereinstimmend, dass „heute Partikulier zu sein, Selbstausbeutung gleichkommt“. An der Tür zur Vorschiffswohnung eines vorbeifahrenden Frachters lesen wir den Spruch: „Willkommen in Alcatraz – lebenslänglich!“ Zu verstehen natürlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wobei die Arbeit nach wie vor kein Zuckerschlecken ist, schon gar nicht die unregelmäßigen Arbeitszeiten. „Du bist hier immer abhängig von Ladung, Wind und Wetter, Zustand der Wasserstraßen, Pegelständen und so weiter“, erklärt Toni, „dazu kommt die Müdigkeit. Wenn du 14 Stunden konzentriert am Ruder gehockt hast, weißt du, was du getan hast!“ Aber sie fühlen sich frei.
„Ende des Jahres muss aber endlich mal Schluss sein!“, meint seine resolute wie patente Sylvia, die nach Jahren harter Plackerei weit über die Altersgrenze hinaus endlich ein ruhigeres Landleben führen und genießen möchte: „Unser Haus, die Enkel, der Garten, vielleicht noch eine Weltreise zu Schiff – das wär´s“. Toni, passionierter Segler, lächelt dazu, denn für ihn „ist der Beruf auch Hobby“. Aber er denkt auch schon an die kostenintensive nächste Hauptuntersuchung, die ab Januar 2022 fällig ist: „Das lohnt nicht mehr so recht“. Perspektivisch würde er die Calbe gern einer Museumsstiftung verkaufen, „denn sie ist etwas Einmaliges, ein Stück DDR-Schifffahrtsgeschichte“. Der Schiffsführer des an Backbord passierenden Frachters FATUM, übersetzt: das Schicksal, kommt aus dem Ruderhaus, formt die Hände zu einem Trichter und brüllt herüber: „Was für´n geiler Dampfer! Wie alt?“ Er glaubt´s kaum und winkt uns hinterher. Zwei hinterher fahrenden Kreuzfahrtschiffen schenkt er jedenfalls nicht diese Aufmerksamkeit.
Nach acht Tagen ist das Ziel erreicht. Zwischen den großen Seeschiffen nimmt sich Calbe wie ein Winzling aus. Die Ladung wird per Kran professionell und in kurzer Zeit gelöscht. Für Sylvia und Toni heißt es dann den Laderaum zu säubern und zu streichen. „Kann ja sein, dass wir Rückladung bekommen“, sagt Toni nach kurzer Kaffeepause, „dann muss alles wieder pikobello sein!“
Informationen:
MS CALBE: Auftraggeber: VEB Deutsche Binnenreederei, Berlin;Bauwerft: VEB Elbe-Werft, Boizenburg, Baujahr: 1961; Typ „Motorgüterschiff Boizenburg – I“; insgesamt gebaut (1960-1964 auch auf den Werften Oderberg und Roßlau) 90 Schiffe (später vielfach auf 80 m verlängert mit Tragfähigkeit 1.046 t); Länge über alles: 67 m ; Breite: 8,19 m, Seitenhöhe: 2,50 m / Gesamthöhe: 3,95 m; Tiefgang leer: 1,17 m, beladen: 2,35 m; Tragfähigkeit max. nach letzter Eichung: 803 t; Maschinenanlage: 8-Zyl.-Hauptmaschine Typ 8 NVD 36 A, Leistung: 420 PS / Drehzahl 375 U/min, VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“, Magdeburg; Ruderanlage: 90 Grad schwenkbar, 3 Blätter; Geschwindigkeit: 16 km/h (max.); Laderaumabdeckung : Stahl – Rolldeck; Einsatzgebiet: DDR-Wasserstraßen, Küstenfahrt, später auch westdeutsches/europäisches Wasserstraßennetz; die Schiffe waren z.T. eisverstärkt, konnten als Schub- und Schleppverband fahren; typisch: die abgeschrägten Steuerhausfenster.