„Eine statische, in der Sekunde eingefrorene Welt“ – Serie: „Georges Seurat. Figur im Raum“ im Kunsthaus Zürich (Teil 2/2)

Georges Seurat, La Tour Eiffel, ca. 1889, Öl auf Holz, 24,1 x 15,2 cm, Fine Arts Museums of San Francisco, Museum purchase, William H. Noble Bequest Fund

„Croquetons“ nennen sich diese kleinen Holztafeln, von denen es wohl 170 gibt, und von denen hier 14 zusammen mit 10 Zeichnungen von der Vorbereitung seines ersten großformatigen Werks „Badeplatz bei Asnières“ dienen. Man muß sich den Vorgang so vorstellen, daß Seurat in der Art der Pleinairmalerei viele kleine Bilder und Zeichnungen schuf, die er dann im Atelier – also die akademische Art – zu einer Gesamtkomposition 1883/84 zusammenfügte. Natürlich sieht man beim 201 x 300 Zentimeter großen Gemälde Seurats den Meister der Badenden, Paul Cezanne gleich mit, der mit Besessenheit schon ein Jahrzehnt früher dieses Motiv über zweihundertmal, darunter ähnlich großdimensioniert, malte. Aber der Eindruck ist bei Seurat durch die kaum mehr wahrnehmbaren Pinselstriche ein völlig anderer. Wie ausgeschnittene und aufgeklebte Figuren schaffen diese in seinem Gemälde eine statische, in der Sekunde eingefrorene Welt.

Diese Welt der Rückenansichten und des Verbergens wird aufgebrochen in dem Spätwerk „Der Zirkus“ von 1890/91, auf den die Ausstellungsdidaktik als Höhepunkt und Abschluß zuläuft. Aus dem Musée d’Orsay kommt dieses mit 185,5 x 152,5 Zentimetern ebenfalls großdimensionierte Gemälde, in das wir, durch Stühle davor bequem sitzend, genauso hineinstarren, wie uns das Publikum auf den Rängen selbst ins Gesicht blickt. Das weiße Pferd galoppiert in der Manege – kein Attribut der Erhabenheit, sondern ein verspieltes weißes Tier. Auf seinem Rücken die feingliedrige Primaballerina, pirouettendrehend im gelben Gewand, während ein Harlekin im Vordergrund ein Tuch schwingt und Stimmung macht, was aber eigentlich dem kommentierenden Conférencier in der Mitte zukommt, der durch den Bildausschnitt an den rechten Rand gedrängt ist, aber blendend im enggeschnittenen Anzug seine Rolle spielt. Ein weiterer Clown treibt einen Akrobaten an, der einen Überschlag wagt, was auf den Gesichtern der Zuschauer der Tribüne – weit überwiegend Damen mit Hütchen, davon weit überwiegend ältere Damen – den Mund offen stehen läßt. Die Musiker spielen oben auf der Rampe, unter der sich die nächsten Akteure, lauter junge Männer, auf ihren Auftritt vorbereiten. Köstlich die professionelle Eleganz des Einpeitschers, der mit seinem Schnurrbart und seinem Gehabe etwas leicht Schmieriges hat.

Daß dieses Bild nicht in schreienden Tönen daherkommt – für einen Zirkus durchaus angemessen – sondern in Erdfarben, Maisgelb, Rostrot gibt dem Bild eine ätherische Wirkung, was durch die pointilistische Struktur unterstützt wird. Sehr leicht ist dieses Bild, sehr bewegt und gibt dem Oeuvre Seurats eine neue Komponente, daß es auch die Bewegung sein kann, die zum Stillstand führt. Denn ein Sekundenblitz erleuchtet auch diese Szene.

Daß auf Katalog und an prägnanter Stelle in der Ausstellung „Der Eiffelturm“ abgebildet ist, rechnen wir den Ausstellungsmachern groß an. Denn man muß offen sagen, daß Hauptwerke aus Amerika fehlen, daß die tanzenden Damenriegen nicht gekommen sind, daß die sich pudernden Damen, die nackten posierenden Malermodelle – allesamt von vorne gemalt – zu Hause geblieben sind, weshalb diese Ausstellung mit dem, was sie zeigen kann, geizen muß, um Georges Seurat in seiner Besonderheit zeigen zu können. Und das gelingt den Ausstellungsmachern sehr gut.

Den Eiffelturm malte Seurat im Januar 1889 in Öl auf 24,1 x 15,2 cm Holz. Aus San Francisco zurück nach Europa gekommen, kann dieses Bild beispielhaft die spezielle Malweise Seurats zeigen. Streng methodisch sind hier die Töne in Punkten der reinen Spektralfarben zerlegt: Kupferrot, Dunkelblau, Hellblau, Gelb und Orange. Diese Farben laufen nicht ineinander über, sondern sind einzeln gesetzt, isoliert also, und doch mit der Wirkung als Boden, Brücke, Baum und vor allem Stahlkonstruktion des Turms zu sehen. Es ist also unser Auge, das ineinanderfügt, was Seurat isoliert. Anfang 1889 den Eiffelturm zu malen, der in Paris die Bevölkerung spaltete und zu diesem Zeitpunkt erst zu Vierfünftel seine endgültige Höhe und Gestalt besaß, ist auch eine Aussage des Malers zum technischen Fortschritt und des Einverständnisses der Ingenieurkunst. Insofern ist dieses Gemälde auch ein Symbol für die Absichten und Ansichten des Künstlers, der den vollendeten Turm nicht mehr malen konnte, weil er mit 31 Jahren starb.

* * *

Ausstellung: bis 17. Januar 2010,

danach vom 4. Februar bis 9. Mai 2010 mit veränderter Hängung in der Kunsthall Schirn in Frankfurt am Main

Katalog: Georges Seurat. Figur im Raum, hrsg. von Christoph Becker und Julia Burckhardt Bild, mit Beiträgen von Wilhelm Genazino, Gottfried Boehm, Michelle Foa, Julia Burckhardt Bild, Hatje Cantz 2009. Da der Erfinder des Pointillismus und der als Solitär in einer Impressionisten- und Spät- und Neoimpressionistengesellschaft völlig einzigartige Georges Seurat in unseren Museen wenig zu sehen ist und Ausstellungen schon deshalb selten sind, weil die amerikanischen Museen ihn rechtzeitig aufgekauft hatten, lohnt sich der Katalog schon zum Nachschlagen seiner Werke. Hier kommt hinzu, daß ein Schriftsteller, ein deutscher Kunsthistoriker, eine junge amerikanische Kunstwissenschaftlerin und die Kuratorin unter spezifischen Fragestellungen Essays liefern, die über Seurat hinaus lesenswert sind. Was wir vermißten, ist eine richtige Biographie.

Internet: www.kunsthaus.ch

Vorheriger ArtikelWer kann, der sollte ”¦ – Serie: „Georges Seurat. Figur im Raum“ im Kunsthaus Zürich (Teil 1/2)
Nächster ArtikelZum Café Noir an die Côte D’Azur – Serie: Nizza sehen und segeln (Teil 1/3)