„Eine jüdische Seele“

Screenshot vom 20.03.2012 der Website JSS News mit einem Bild der Veranstaltung. Salim Jubran ist mit einem roten Kreis gekennzeichnet. © WELTEXPRESS

Am Ende der Feier wurde die Nationalhymne gesungen. Die Kamera schwenkte langsam von Gesicht zu Gesicht. Einen Moment lang ruhte sie auf dem Gesicht des Richters Salim Jubran. Er stand respektvoll wie alle anderen da, aber seine Lippen bewegten sich nicht.

Ein landesweiter Tumult entstand. Der Richter Jubran ist der erste arabische Bürger, der jemals als regulärer Richter am Obersten Gerichtshof amtiert.

Die Parteien vom rechten Flügel waren wütend. Wie konnte er es wagen! Es ist eine Beleidigung der Staatssymbole. Er muss sofort entlassen werden. Noch besser wäre, ihn in ein Land zu deportieren, dessen Nationalhymne er zu singen bereit wäre.

Andere behandelten den Richter mit Respekt. Er hat sein Gewissen nicht vergewaltigt! Wenn er die Nationalhymne gesungen hätte, wäre es reine Heuchelei, wenn nicht Verlogenheit gewesen. Also tat er genau das Richtige.

Der Name der Nationalhymne Hatikva, bedeutet auf hebräisch „die Hoffnung“.

Sie wurde 1878 geschrieben, fast ein Jahrzehnt vor der Gründung der zionistischen Bewegung von einem unbekannten Poeten als Hymne für eine der neuen jüdischen Kolonien in Palästina. Sie wurde später als offizielle Hymne der zionistischen Bewegung angenommen, dann von der neuen jüdischen Gemeinschaft in Palästina und schließlich vom Staat Israel. Die Melodie war die eines rumänischen Volksliedes, die vielleicht wiederum von einem alten italienischen Lied stammt…

Der Text reflektiert den Geist der Zeit: So lange sich im Herzen/ eine jüdische Seele noch sehnt/ und weiter in den Osten/ Ein Auge gen Zion blickt… Unsere Hoffnung ist noch nicht verloren/ die Hoffnung von zwei Tausend Jahren/ um ein freies Volk im eigenen Land zu sein/ im Lande von Zion und Jerusalem…

Für einen jüdischen Israeli sind die Worte hoffnungslos überholt. Für uns liegt Israel nicht im „Osten“, unsere Hoffnung, ein freies Volk im „eigenen Land“ zu sein, hat sich längst erfüllt.

Aber für einen arabischen Israeli sind diese Worte eine Zumutung. Er hat keine „jüdische Seele“, seine Augen blicken nicht gen Osten, seine Heimat ist nicht „Zion“ (Einer der Hügel Jerusalems). Die einzigen Worte, die er für sich anwenden könnte, sind „die Hoffnung, ein freies Volk zu sein“ im eigenen Land.

Wie kann ein arabischer Bürger, egal wie loyal er gegenüber dem Staat ist, diese Worte singen, ohne vor sich selbst in Scham zu versinken ? Der Richter Jubran mag in allen anderen Beziehungen ein perfekter Mensch sein, aber eine „jüdische Seele“ hat er nicht.

Für mich persönlich weckt der Vorfall eine sehr alte Erinnerung. Er lässt mich tiefe Sympathien für diesen mutigen Richter empfinden.

Ich war neun Jahre alt, als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Ich war ein Schüler in der 1. Klasse des Gymnasiums, der einzige Jude in der ganzen Schule. Eines der Kennzeichen des neuen Regimes war die Häufigkeit nationaler Gedenktage – wie z.B. der Sieg deutscher Waffen im Laufe von Jahrhunderten – die in der Aula der Schule von allen Schülern feierlich begangen wurden und bei denen patriotische Reden gehalten wurden.

Am Ende von einem dieser Ereignisse – ich denke, es war der Gedenktag der Eroberung Belgrads durch Prinz Eugen, 1717 – stand die ganze Schülerschaft auf und begann die beiden offiziellen Nationalhymnen zu singen, die Deutschlands und die der Nazipartei. Alle Schüler hoben den rechten Arm, zum Hitlergruss.

Und ich musste innerhalb des Bruchteils einer Sekunde eine Entscheidung treffen. Ich war wahrscheinlich der kleinste Junge, da ich ein Jahr früher als meine Klassenkameraden zur Schule gekommen war. Ich stand in Hab-Acht-Stellung, aber hob meinen Arm nicht und sang die Nazihymne nicht mit. Ich denke, ich zitterte vor Aufregung.

Als dies vorbei war, bedrohten mich einige Jungen, wenn ich das nächste Mal nicht meinen Arm heben würde, dann würden sie mir die Knochen brechen. Glücklicherweise verließen wir Deutschland einige Tage später.

Ich weiß nicht, ob der Richter während des Singens zitterte, aber ich weiß genau, wie er sich gefühlt hat.

Nach mehr als einer Woche schlägt der Vorfall in den Medien wegen seiner tiefen Bedeutung noch immer hohe Wellen, selbst neben dem endlosen Geschwätz über die existentielle Gefahr, die vom Iran ausgehen soll.

Wenn der ranghöchste arabische Richter die Nationalhymne nicht mitsingen kann, wie ist es dann mit der Einstellung der restlichen 1,5 Millionen arabischer Bürger Israels gegenüber den „Staatssymbolen“, oder tatsächlich gegenüber dem „Jüdischen Staat“ selbst? Bedeutet dies, dass sie ein Trojanisches Pferd sind?

Dies ist eine alte Frage, so alt wie der Staat selbst. Der Widerspruch ist durch die offizielle Formel des „Jüdischen und demokratischen Staates“ überspielt worden. ( Die Araber verspotten ihn als „ einen demokratischen Staat für die Juden und einen jüdischen Staat für die Araber“) Der Vorfall mit Richter Jubran bringt wie nie zuvor das Problem ans Tageslicht. Hier ist ein loyaler Bürger, der das Gesetz auf höchster Ebene verwaltet, der aber die Nationalhymne nicht mitsingen kann. Was soll man da tun?

Die einfachste Antwort wäre, die Nationalhymne verändern. Zum ersten Mal wird dies jetzt offen von einigen Kommentatoren diskutiert.

Ich muss ehrlich sagen: Ich liebte die „Hatikwa“ nie. Die gestohlene Melodie ist nicht schlecht, aber sie passt nicht zu einer Nationalhymne. Eine Nationalhymne sollte mitreißend, begeisternd sein, während diese so traurig ist wie Verdis Lied der hebräischen Sklaven in Nabucco (Nebukadnezar). Was die Worte betrifft, so passen diese überhaupt nicht.

Viele Nationen haben alberne Nationalhymnen. Was tun die blutigen Hände der deutschen Tyrannen in der französischen Nationalhymne? Was die ruhmreiche und siegende Königin in der britischen? (Der letzte berichtete, ruhmreiche Sieg Ihrer Majestät der Königin war der gegen 15 000 Argentinier bei den Falklandinseln). Oder die total irre holländische Nationalhymne. Ganz zu schweigen von der deutschen, in der jetzt der dritte Vers, den jetzt verpönten Vers ersetzt, den meine Schulkameraden 1933 bei jener Feier sangen.

Aber die Tatsache, dass die Hatikva irgendwie total veraltet ist, war nicht der Hauptgrund, sie durch eine andere zu ersetzen. Es ist die Tatsache, dass ein Fünftel von Israels Bürgern Araber sind, die sie nicht singen können. (Ein anderes Zehntel – die orthodoxen Juden – weisen sie auch zurück.)

Es ist eine sehr ungesunde Situation für einen Staat, wenn 20% seiner Bürger seine nationalen Symbole verabscheut. Genau aus diesem Grund hat Kanada seine Nationalhymne vor noch nicht so langer Zeit verändert. Es änderte die britische Nationalhymne in eine, die die französischen Kanadier mit gutem Gewissen mitsingen können, ohne ihre eigene Identität zu leugnen. „Oh Kanada“, verbessert die Einheit all seiner Bürger.

Die Nationalhymne zu verändern, ist gar nicht so einmalig. Während des 2. Weltkrieges, als Stalin den Westen benötigte, hat er plötzlich die „Internationale“ verworfen und eine neue Nationalhymne durch einen Wettbewerb ausgewählt. Die Worte, dieser neuen Hymne wurden durch die „Russische Föderation“ verändert, als die Sowjetunion aufgelöst wurde, aber die Melodie wurde beibehalten.

Also ergriff ich die erstbeste Gelegenheit, eine neue Hymne zu empfehlen. Es war bald nach dem 67er-Krieg. Naomi Shemer, eine populäre Dichterin und Komponistin, hatte kurz vor dem Krieg ein Lied über „Jerusalem in Gold“ geschrieben, die die Hymne des Krieges wurde. Ich liebe diese Zeilen nicht, aber hier gab es eine goldene Gelegenheit, die Hatikva loszuwerden. Also legte ich einen Gesetzesentwurf vor, dieses Lied als neue Nationalhymne zu übernehmen.

Der Knessetpräsident war wohlwollend, aber sagte mir, dass er die Gesetzesvorlage nicht ohne Einverständnis der Autorin annehmen könne. Ich arrangierte ein Treffen mit Naomi. Sie war eine nette Person, doch gehörte sie durch Heirat zum rechten Flügel. (Sie war in einem linken Kibbuz aufgewachsen, aber ihr Mann war sehr rechts.)

Zu meiner Überraschung war ihre Reaktion weit davon entfernt, begeistert zu sein. Da gab es etwas Geheimnisvolles, dachte ich. Aber sie war damit einverstanden, mir zu erlauben, den Gesetzentwurf vorzulegen, der dann einstimmig abgelehnt wurde. Zu dieser Zeit war die Hatikva heilig. (Später verstand ich Naomis seltsame Haltung bei unserm Treffen: vor ihrem Tod gab sie zu, dass die schöne Melodie dieses Liedes gar nicht ihre war, sondern die eines baskischen Liedes. Jahrelang fürchtete sie diese Enthüllung.) Aber da die Melodie von Hatikva auch „gestohlen“ war, würde das keinen großen Unterschied machen.

Die Hatikva kann die Hymne der Juden in aller Welt bleiben, wenn sie es wünschen. Ein neues Lied wird die Nationalhymne des Staates Israel und all seiner Bürger werden.

Die tatsächliche Geschichte hinter dem Vorfall ist natürlich das ungelöste Problem von Israels arabischer Minderheit. Sie wird praktisch in allen Lebensgebieten diskriminiert, eine Tatsache, die von israelischen Offiziellen bereitwillig zugegeben wird. Es gibt keine Vorschläge, wie diese zu verbessern wäre.

Die Araber fühlen sich zu Recht zurückgewiesen und antworten mit wachsender Befremdung gegenüber dem Staat. Ihre Führer, die mit einander im Konkurrenzkampf stehen, werden immer extremer, während der israelische rechte Flügel immer anti-arabischer wird. Paradoxer Weise werden die israelischen Araber immer israelischer und gleichzeitig immer anti-israelischer.

Dies ist eine tickende Bombe, und eines Tages wird sie explodieren, wenn nicht wirkliche Anstrengungen gemacht werden, es ehrlichen Arabern möglich zu machen, sich wie wirkliche Bürger des israelischen Staates zu fühlen und eine neue Nationalhymne mitzusingen.

So lange die arabischen Bürger wie Trojanische Pferde behandelt werden, warum sollten sie mitsingen? Soweit ich weiß, zeichnen sich Pferde nicht durch Singen aus.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Enlischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 10.03.2012. Alle Rechte beim Autor.

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