Mit all diesen Bedeutungszotteln wirkt Berlins größtes Filmfestival zuweilen wie ein kuscheliges und mächtiges Mammut, das derzeit dem rauen Finanzklima trotzt und unbeirrt in der Herde der Leitmedien trottet. Diese Mammutmaschine füttern Köche in den Loungebereichen, bei den Shooting Stars und den Konferenzen in Hotels, beim World Media Fund, auf Partys und natürlich beim Kulinarischen Kino. Die Zotteln der Kreatur wären dann auch die ausgerollten Filmstreifen, Schlüsselbändchen und Teppiche, die Kabel der Sendeanstalten und in den Computerfarmen, die langen Schlangen Filmhungriger an den Vorverkaufskassen. Unser Flimmermammut macht keine hastigen Bewegungen, sondern absorbiert durch seine schiere Größe einfach Trends, schwitzt auch mal Perlen aus und trompetet im Radio, Lokalfernsehen und auf roten Postern seine Präsenz in die Stadt hinaus.
Auf der einen Seite werfen Tausende Filmemacher zu Beginn ihre Werke in diese Riesenmaschine ein und beginnen ehrfürchtig zu hoffen. Es sind zumeist Filmemacher in der engeren Definition, solche mit Produktionsfirmen hinter sich und Fördergeldern; hart arbeitende professionelle Regisseure, die auf Zelluloid oder HD Videoformaten drehen, was natürlich 90 Prozent der existierenden Filmer bereits ausschließt. Zahlreiche Sichtungskommissionen schauen sich ein halbes Jahr lang die Augen wund und wühlen solange durch diesen Brei im Mammutmagen, bis sie mit den Mandeln zwischen den Zähnen und erschöpft wieder auftauchen. Zumindest glauben sie das und vertrauen auf ihre Erfahrung.
Ebenfalls Tausende junger Filmmenschen bewerben sich beim Talent Campus und eine elitäre Kommission pickt sich dort die 300 Rosinen heraus, was einen gehörigen Egoschub bei den Erwählten produziert, der sich auf der Abschlussfeier entlädt. Wiederum wurden dort Barrieren geschaffen, aber mit Kaufkarten dürfen sich die Abgelehnten wenigstens einige Veranstaltungen ansehen mit dem Risiko, gute, zeitgleich laufende Filme zu verpassen. Schließlich akkreditieren sich weitere Abertausende Journalisten, Fachbesucher und EFM Teilnehmer und bevölkern gemeinsam mit dem Publikum den Potsdamer Platz im Februar mit ihren Taschen und Kärtchen. Wir werden zu Passagieren auf dem Mammut. Es herrscht gute Stimmung auf dem Ritt um die Bilderwelt. Cineasten schwärmen aufgeregt umher. Am Ende regnen Preise auf Überraschte nieder und mögen Jungtalenten wie auch erfahrenen Filmhasen Aufwind zufächeln. Uns brummt der Schädel und übersättigt verteilen wir mit roten Augen Haltungsnoten. Fotografen schrauben ihre Objektive ab und fahren heiser heim. Manch einer freut sich über gelungene Portraits von Jury und Stars, die er an Zeitungen verkaufen konnte. Die Berlinale versteht sich als Seismograph und Thermometer der Filmwelt. Sie verschanzt sich hinter Anzugträgern und gibt sich mondän.
Der Europäische Film Markt (EFM) sorgt alljährlich für das Futter (die Haupteinkünfte); Förderung und Kartenerlöse sind dagegen nur Häppchen. Lobet den EFM! Dort laufen ohnehin die interessanten Filme in angenehm ungefüllten Kinos. Als EFM Highlights seien hier folgende genannt: THE SKY CRAWLERS von Mamoru Oshii (Anime Drama), $ 9,99 von Tatia Rosenthal (Puppentrick Drama), A FILM WITH ME IN IT von Ian FitzGibbon (Komödie) sowie EVIL ANGEL von Richard Dutcher (Horror). Mögen sie alle einen Verleih und damit den Weg in unsere Kinos finden.
Was war 2009 neu? Der ungemütliche Friedrichstadtpalast mit seinen harten engen Sitzen wurde als Kino angemietet. Wer das Pech hatte, auf Randplätzen zu landen, starrte auf eine gestauchte Leinwand. Viele Sektionen steckten mehr hochwertige Dokumentationen ins Programm. Beim Talent Campus und der GENERATION gab es Wechsel im Personal. Teile des EFM wanderten in das Marriott Hotel. Beim Talent Campus vermisste man die in zwei Tagen hergestellten Garage Movies und langweilte sich manchmal in Aufgüssen der Vorjahresvorträge. Die GENERATION Lounge zog um in das spitze Gebäude, aus dem der EFM geflohen war. Aber die leckeren Oliven und Knabberstangen gab es dort weiterhin nebst Freigetränken. Hier ließ es sich entspannt mit Filmern plaudern.
So wie sich also die Kommissionen die Sahnestückchen der Einreichungen herausfischen, müssen wir Kritiker nun unsererseits die Zotteln der Programme nach dem Besonderen durchforsten. Die notwendige Verknappung an dieser Stelle sei uns verziehen. Aber selbst mit täglich hoher Filmdosis vermag man kaum mehr, als einen Zipfel der 386 Angebote wahrzunehmen. Da sind meine ca. 70 Filme schon ein guter Schnitt. Kollegen spezialisieren sich manchmal und haben dann wenigstens den Überblick über eine Sektion. Aber diesen Satz schreibe ich schon seit Jahren. Unkommentiert will ich auch das Merchandising lassen, die Auftritte der Direktors Kosslick und die Erkennungsmelodie vor jedem Film.
Kontinuität beweist die Berlinale in der hohen Qualität des GENERATION Programms. Zwar fanden in so gut wie jedem Beitrag der 14plus Reihe irgendwelche sexuellen Handlungen unter Jugendlichen statt und Elternkonflikte. Aber vielen Regisseuren gelingt in diesem Kinder- und Jugendfilmgenre die Verknüpfung von Botschaften mit Unterhaltung. Das kann vom FORUM nicht immer behauptet werden, ebenso wenig wie von der PERSPEKTIVE. Durchwachsen muteten WETTBEWERB und PANORAMA an, ebenso wie SPEZIAL und RETROSPEKTIVE. Aber solche Pauschalisierungen werden den Beiträgen kaum gerecht. Beschränken wir uns also auf einige ausführlichere Beispiele in Teil 2.