Wir sind noch bei David in seinem Bett, dessen Körper allein durch die Perspektive die häufig zitierten Aussage vom durch Testosteron gesteuerten männlichen Wesen bewahrheitet: sehr klein der weit entfernte Kopf, viel größer der vor uns ruhende Fuß und gleichgroß dem Kopf das mittig angeordnete Geschlecht. Auf ocker-bräunlichem Hintergrund, der nur durch eine Fußleiste im rechten Winkel Wand und Boden einteilt, sticht rechts ein Blumenständer ins Auge, im Kolonialstil, also dickes Bambusgeflecht unterbrochen von feinen Quermustern. In ihm ruht erneut eine gewaltige Kakteen-Palmenart und obwohl seit der Yuccapalme von 1944 nun fast 60 Jahre vergangen sind, kämpft auch diese Pflanze ums Überleben. Dem Absterben noch näher als damals, denkt man, denn sie scheint schon hinüber zu sein, die welken Blätter von braun bis hellgelb überwiegen gegenüber den wenigen grünen Stacheln. Also vertrocknet?, wie unsere Nachbarn ebenfalls feststellen und nach dessen symbolischer Bedeutung für das Bild die Betrachter nun fragen: Was will uns der Maler sagen? Einst lebendig, nun vertrocknet wie der Mann hier, dessen Geschlecht nutzlos herumliegt?
Ach, wenn es so einfach wäre. Abgesehen davon, daß der nackte Körper in der Tat nicht alt aussieht, man nur die Haut und den sophistischen Gesichtsausdruck für ’älter’ ansieht, hält auch die Blumenmetapher nicht stand. Solche Blumen gehen oft zugrunde, weil sie zuviel gegossen werden. Braune Spitzen und abgestorbene Blätter, die sich in Freuds Bildern wirklich zuhauf finden, sind immer ein Zeichen für zu wenig oder zu viel Wasser. Nur der Fachmann kann das durch den genauen Blick am Original feststellen. Es könnte also auch der Überfluß den Zustand der Pflanze und die des Mannes erklären. Noch eines. Wieder sind es – nach 60 Jahren – Schlagschatten, die Freud von links kommend rechts hinmalt. Virtuos, wie er das Geflecht des Blumenständers als Schattengebilde an die braune Zimmerwand wirft.
Im „Großen Interieur, Paddington“ aus dem Jahr 1968-69, zeigt sich Freud schon als der Realist und Übertreiber in einem. Galt er uns bisher als besessener Maler von nackten Körpern – hier ist es ein kleines blondes Mädchen, das nur mit dem Hemd bedeckt, die linke Hand zwischen den angezogenen Beinen auf ihrer linken Seite liegt – , so ist erneut das Bild gefüllt durch eine Pflanze. Es ist eine hellgrüne lichte Zimmerlinde, die Dreiviertel des hohen Gemäldes einnimmt und erneut von Verfall zeugt durch die abgeworfenen bräunlichen Blätter am Boden und die in den Zweigen. Davon links an der Wand, über dem am Boden liegenden Mädchen, hängt eine graue, schäbige Männerjacke mit aufgerissenen Ärmeln. Wie haben die Betrachter in den Entstehungsjahren vor vierzig Jahren die Bildaussage interpretiert? Solch ein Bild kann ein Europäer im Jahr 2010 gar nicht anders als eine Mißbrauchsdokumentation ansehen. Furchtbar, wie die gesellschaftliche Realität den Blick festlegt. Fortsetzung folgt.
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Ausstellung: Bis 19. Juli 2010
Katalog: „Lucian Freud. L’Atelier“, Edition des Centre Pompidou 2010. Wer wenig Material über Lucian Freud hat, sollte sich diesen Katalog sofort zulegen. Auch, wenn er kein Französisch kann. Die Bildwerke sind phänomenal wiedergegeben und die
Künstlerbiographie ist reichhaltig mit Werken und Fotos bestückt. Vielleicht am schönsten jedoch sind die Fotografien, die Lucian Freud beim Malen festhalten, sein Atelier zeigen und die vielen Stationen, die ein Gemälde durchläuft. Rundherum ein einfach sehr schönes Buch.
Internet: www.centrepompidou.fr