Als Lucian Freud noch ein Surrealist war – Serie: „Lucian Freud. Das Atelier“ im Centre Pompidou in Paris (Teil 1/4)

Large Interior Notting Hill 1998 Pompidou

Sehr dicht gedrängt unter einem auffallend jungen Publikum konnten wir im Centre Pompidou, in dieser „Raffinerie der Kunst“, nun eine umfassende Werkschau von rund fünfzig großformatigen Gemälden, vielen Radierungen und sonstigen graphischen Werken sowie Fotografien sehen, die teilweise zeitlich gehängt sind, überwiegend jedoch thematisch gegliedert sind, wobei sich abzeichnet, daß für Freud beides gilt: Er hat inhaltliche Schwerpunkte in den jeweiligen Epochen, aber das Porträt, der Akt und Häuseransichten ziehen sich durch sein ganzes Lebenswerk.

Gleich zu Beginn hängt „Das Atelier des Malers“ aus dem Jahre 1944, in dem der Surrealismus grüßen läßt. Wir blicken in ein menschenleeres Zimmer, in dem ein altmodisches zweisitziges Fauteuil zum Verweilen einlädt, dahinter eine hochgewachsene und zwischen Absterben und Weiterwachsen befindliche stachelige Yucca-Palme, davor liegt eine abgeworfene blutrote Decke und ein schwarzer Zylinder auf dem Kopf. Das Dominierende jedoch ist dabei verschwiegen. Denn von rechts ragt durch eine Fensteröffnung weit über die Mitte des Raumes ein gewaltiger Zebrakopf mitsamt Halsansatz, nur ist das Tier in den Farben Gelb und Rot gestreift, wo sonst Schwarz und Weiß korrekt sind, und zeitigt nicht nur unsere naturkundlichen Kenntnisse der Lüge, sondern auch unsere Erfahrungen, denn derartige Hälse und Köpfe stecken sonst nicht in Fensteröffnungen und schon gar nicht bis in die Mitte des Raumes.

Was also soll das 1944, mitten im Krieg? Großvater Sigmund Freud wäre jetzt als Interpret vonnöten, so aber schauen wir verwirrt weiter ins Bild, das gemäldetechnisch glänzend gemalt ist, mit dem Fußboden, der in den traumhaft schönen goldschwarzen Rahmen übergeht. Schon dieses Rahmens wegen möchten wir das Bild gerne mitnehmen. Die am Boden liegende Decke zeigt noch den Schwung des Abwerfens, zittert im Fall, so unvorstellbar springt einen das Rot an und der Schlagschatten, den die kreisrunden Sofastützen auf ihren runden Rädchen am Boden nach rechts werfen, zeigen, wie die des Zylinders, daß die Lichtquelle von links kommt. Aber da ist hier nur die Leiste des Bilderrahmens. Und im übrigen, wo bleiben die Schatten des Sofas oder der Palme? Der Schlagschatten bleibt also selektiv. Welche Erklärung gibt es?

Schauen wir schließlich die blaugrauen, traurig blickenden Augen des rotgestreiften Zebras an; deren Farbe findet sich wieder in dem hellen Blau der Rückwand und dem Grau der rechten Fensterwand, durch die das Zebra schaut. Welch sanfter Auftakt ist dieses kleinformatige Bild und völlig unähnlich dem heutigen Freud, der seinen realistischen Stil mindestens seit 1952 gefunden hatte und beibehalten hat und dessen elf mittel- und großformatige Gemälde einen im nächsten Raum als „Interieurs, Exterieurs“ fast erschlagen. Merkwürdig mutet das an, daß hier die großformatigen Darstellungen von meist nackten Menschen gekoppelt sind mit Häuserfluchten. Was hat beides miteinander zu tun?

Wir beschauen erst einmal die Nackten, hier „David und Eli“ aus dem Jahr 2003-04. Da liegt er, der nackte, nicht mehr junge Mann auf einem Eisengestellbett, sein sehr rotstichiges Gemächt zum Mittelpunkt des Bildes gemacht und der Welt dargeboten. Er liegt auf dem Rücken, den Kopf auf der Bettbrüstung mit Kissen aufgestützt und schaut uns an. Den Mund geöffnet, aber als Haltung total erschlafft und inaktiv. Das linke Bein hat er am rechten Bein in Kniehöhe eingeschlagen gestützt, das bis zum Boden über die Bettkante herunterhängt. An dieses Bein angeschmiegt liegt sein Hund, so daß dessen Kopf ebenfalls zu Boden hängt. „Ist er tot?“, fragt man angstvoll, aber es ist nur die entspannte Haltung eines Tieres im Tiefschlaf, die aussieht, als ob sich der Körper einfach auflöst. Fortsetzung folgt.

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Ausstellung: Bis 19. Juli 2010

Katalog: „Lucian Freud. L’Atelier“, Edition des Centre Pompidou 2010. Wer wenig Material über Lucian Freud hat, sollte sich diesen Katalog sofort zulegen. Auch, wenn er kein Französisch kann. Die Bildwerke sind phänomenal wiedergegeben und die

Künstlerbiographie ist reichhaltig mit Werken und Fotos bestückt. Vielleicht am schönsten jedoch sind die Fotografien, die Lucian Freud beim Malen festhalten, sein Atelier zeigen und die vielen Stationen, die ein Gemälde durchläuft. Rundherum ein einfach sehr schönes Buch.

Internet: www.centrepompidou.fr

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