Trotzdem ist Bertolt Brechts Baal, der begabte Lyriker mit den schlechten Manieren, auch heute denkbar, vielleicht sogar als einer, der, wie Brecht schreibt, „bis über sein 30. Lebensjahr hinaus völlig unbescholten dahinlebte.“ Ein solcher Baal könnte auch das Opfer einer frühen Midlifecrisis sein.
In der Inszenierung von Christoph Mehler hat Baal noch nicht viel Zeit mit Unbescholtenheit vergeudet. Mirco Kreibich wirkt wie ein Junge, dem gerade erst der Bart zu sprießen begonnen hat und bei dem die Hormone verrückt spielen. Es ist glaubwürdig, dass er eine Stelle als Schreiber hatte, die er wegen seines Lotterlebens verliert, aber sozialisiert war dieser Baal offenbar nie. Er ist ein Wilder, eher Kobold als Mensch, eingesperrt in eine Zivilisation, in der er nicht atmen kann.
Mirco Kreibich ist immerzu in Bewegung. Wenn er nicht rennt oder springt, tritt er auf der Stelle. Auch wenn er sitzt oder liegt ist er niemals ganz entspannt, scheint immer einen Angriff zu erwarten, gegen den er sich verteidigen oder vor dem er fliehen muss.
Dieser Baal ist Gefangener in einer Welt, gegen die er Krieg führen muss, um zu überleben. Bemitleidenswert ist er trotzdem nicht, nicht einmal am Schluss, wenn er winselnd zugrunde geht, denn einer, der zu keinem Gefühl für andere fähig ist, kann auch kein Mitgefühl erwecken.
Baal ist Anarchist. Er durchschaut die Spielregeln, die er selbst nicht einzuhalten gewillt ist, und er kann anderen eine Moral predigen, die er für sich nicht akzeptiert. Er ist kein armes Opfer, das sich nicht zu wehren weiß. Baals Waffe ist nicht die physische Brutalität, die er ganz selbstverständlich einsetzt, sondern die Sprache.
Es ist bewundernswert, dass Mirco Kreibich trotz seiner ungeheuerlichen sportlichen und artistischen Leistungen niemals außer Atem gerät. Wie exzessiv er auch gerade noch herumgetobt ist, Kreibich akzentuiert jedes Wort glasklar und provokativ. Mirco Kreibichs Baal scheint sich selbst zu erschaffen, indem er spricht, und, gleichgültig ob er ein Gedicht vorträgt oder guten Abend sagt, ist jedes Wort eine Kampfansage und Dokumentation von Baals Einzigartigkeit.
Dass Kreibich alles, was Baal sagt, aufsässig und bedeutsam zum Ausdruck bringt, lässt den Text manchmal allerdings etwas zu einförmig erscheinen. Musikalische und optische Akzente hätten dies auflockern können, aber in der spartanischen Inszenierung gibt es keine Musik und wenig Dekoration.
Bühnenbildnerin Nehle Balkhausen hat ein mit roten und grünen Wimpeln verziertes Podest in die Mitte der Spielfläche gestellt. Die Wände sind schwarz ausgeschlagen, und auf der Rückwand erscheinen, entsprechend den Situationen, in denen Baal agiert, die Worte frißt, säuft oder tanzt.
Regisseur Christoph Mehler hat sich anscheinend ganz auf seinen, in der Tat wunderbaren, Hauptdarsteller konzentriert und das übrige Ensemble bedauerlich vernachlässigt.
Franz Konstantin Beil als Ekart ist zu hölzern, um glaubwürdig zu sein.
Michael Schweighöfer mit seiner eindrucksvollen Darstellung von Baals Mutter, die an Therese Giehse denken lässt, agiert ganz für sich und scheint gar nicht zum Stück zu gehören.
Ein sehr intensives, spannungsvolles Zusammenspiel dagegen ist zwischen Mirco Kreibich und Alwara Höfels als Sophie Dechant zu erleben. Die schöne, elegante Sophie wird auf der Straße von dem heruntergekommenen Baal belästigt. Daraus entsteht eine Liebesgeschichte, in der auch Baal echte Gefühle zu zeigen scheint. Es erweist sich jedoch, dass Baal auch diese Frau nur benutzt und dann wegwirft.
Alwara Höfels als verlassene, schwangere Sophie bricht in eine herzzerreißende, fast nicht mehr erträgliche Klage aus. Sie gibt all den Frauen eine Stimme, die im Krieg der Männer so ganz nebenbei auf der Strecke bleiben.
Den ausbeuterischen Direktor des Kabaretts, in dem Baal zeitweilig auftritt hat Brecht nicht mit einem Namen, lediglich mit der Bezeichnung „Der Neger John“ versehen. Das wurde 1918, als das Stück entstand, noch nicht als politische Unkorrektheit empfunden.
Im Programm der Kammerspiele erscheint auch jetzt die Brechtsche Bezeichnung für die unsympathische Figur. Aber Christoph Mehler hat die Rolle des „Neger John“ mit einer weißen Frau besetzt.
Isabel Schosnig spielt zu Beginn des Stücks „Die Frau des Bureauchefs“, die sich mit Baal einlässt und von diesem sadistisch gedemütigt wird. Später setzt sich Isabel Schosnig, passend zu ihrem schwarzen Kleid, einen schwarzen Zylinder auf den Kopf und darf nun als Kabarettdirektor den bei diesem angestellten Baal nach Herzenslust schikanieren.
Damit hat sich der Rassismus erledigt, und obwohl, oder weil, Brecht das nicht vorgesehen hat, ist es erfreulich, zu sehen, dass eine Frau auch einmal kräftig zurückschlagen kann.
Selbstverständlich haben diese beiden verschiedenen Rollen, in denen Isabel Schosnig agiert, gar nichts miteinander zu tun, aber trotzdem …
Sehenswert ist Christoph Mehlers Inszenierung auf jeden Fall, und das Premierenpublikum honorierte sie mit großem Applaus, vor allem, aber nicht ausschließlich, für Mico Kreibich.
Einiges wird sich in den nächsten Vorstellungen sicher noch positiv verändern. So wird Mathis Reinhardt in seiner Darstellung als bayerischer Amtsbote í la Karl Valentin etwas lockerer werden, und das durchaus motivierte Ensemble wird sich besser aufeinander einspielen.
„Baal“ von Bertolt Brecht hatte am 08.04. Premiere in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin. Weitere Vorstellungen: 15.04. und 11., 14., 22. und 24.05.2009.