Dabei hatte Teresa Enke schon so lange und tapfer versucht, sie zu verstehen und zu bekämpfen: Die verdrängte, bereits überwunden geglaubte Krankheit ihres Mannes, über die sich anscheinend so schwer sprechen lässt und die deshalb so oft im Verborgenen stattfindet. An der pro Jahr in Deutschland mehr Menschen sterben als bei Verkehrsunfällen.
Die Depression und Lara
Der schwarze Hund hatte sich, nach 2003, zum zweiten Mal in das Leben des damals angehenden Nationaltorhüters und Mannschaftskapitäns von Hannover 96, Robert Enke, geschlichen. Leise, von hinten, zunächst unbemerkt und heimtückisch, dann mit einer unglaublichen Wucht zuschlagend, was wieder lange Zeit von nahezu allen Menschen die Enke umgaben unbemerkt blieb.
Vor dem es kein Entrinnen gab, obwohl Robert Enke unter fast übermenschlicher Kraftanstrengung die Fassade aufrecht erhielt und alles gut zu laufen schien: Joachim Löw hatte ihm signalisiert, er werde in der Qualifikation für die WM 2010 die Nr.1 im deutschen Tor sein. Kaum einer ahnte, dass er in Wirklichkeit seit dem Tod seiner von Geburt an todkranken und dann früh verstorbenen Tochter Lara nur noch eine roboterhaft funktionierende Hülle war, in der längst wieder der alte Affe Angst wütete.
„Ich schaff das nicht, alles ist sinnlos“, dachte er immer zwanghafter, getrieben von Panikattacken, Versagensängsten und Schuldgefühlen. „Ich schaff das, alles in Ordnung“ sagte er am 9. November 2009 zu seiner Frau und sah sich „Titanic“ im Fernsehen an. Sediert von starken Psychopharmaka, die nicht wie gewünscht anschlugen und trotz derer er noch einmal den Weg zwischen die Pfosten zurückgefunden hatte. Einen Tag später war er tot. In einem Abschiedsbrief entschuldigte er sich bei seiner Frau und allen anderen, die er getäuscht zu haben glaubte. Schuldgefühle bis über den Tod hinaus. Es ist zum Weinen.
Früher Ruhm und schwere See
Robert Enke war erst um die 20 Jahre alt, als er erst in Gladbach, dann bei Benfica Lissabon früh Karriere zu machen schien. Schon damals machten den bei der BSG Jenapharm Jena gestarteten Keeper extremer Ehrgeiz und melancholische Schübe anfällig für Selbstvorwürfe und Panikattacken. „Wenn ich nicht der Beste bin, bin ich der Schlechteste“, hatte er einmal in der B-Jugend gesagt und einmal den Vater gefragt: „Papa, bist du mir eigentlich sehr böse, wenn ich mit Fußball einfach aufhöre?“ Ein erster Knacks, wie aus dem Nichts, der blieb und schubweise schlimmer wurde. Für beleidigende Attacken aus dem gegnerischen Fanblock war Robert nicht robust genug. Aber er ließ sich nach außen nichts anmerken.
An der Seite seiner Jugendliebe und Ehefrau Theresa fand er trotz Zweifeln immer wieder zurück zu seinen Stärken: Selbstironie, offene Herzlichkeit, Tierliebe, menschliche Anteilnahme auch am Schicksal des Gegners, Integrität, Demut, Anstand, Empathie. Diese Stärken und die bedingungslose Unterstützung Theresas ließen ihn auch die härtesten Momente seiner Spielerkarriere überstehen.
Erst wurde er 2002 in Barcelona von Louis van Gaal abgeschoben, dann erlebte er bei Fenerbace Istanbul einen Kurztripp in die Fußballhölle, regenerierte dann in der zweiten spanischen Liga bei CD Teneriffa. Er bewältigte in dieser Zeit mit Therapie, Medikamenten und bedingunsloser Liebe den ersten Schub seiner Depression. Für die Bundesliga und höhere Aufgaben aber schien für Robert Enke der Zug abgefahren, bis ihn 2004 Ewald Lienen zu Hannover 96 in die Bundesliga holte.
Wenige Freunde und eine Frau
Ronald Reng, Journalist aus Barcelona, ist ein bemerkenswertes Buch über das tragische Leben eines außergewöhnlichen Sportlers gelungen. Seine Freundschaft zu Robert Enke entstand aus einem Zufall, Robinho und Roninho, wie sie sich scherzhaft nannten, wollten eines Tages gemeinsam ein Buch über Enkes Karriere als Torhüter schreiben. Nun hat Reng es nach langem Zögern alleine schreiben müssen.
Es ist ein bewegendes Stück Sportjournalismus geworden, das zwischen Distanz und Nähe das richtige Maß findet, um den Werdegang und die spezielle Tragik Robert Enkes zumindest nachzuvollziehen. Denn wirklich verstehen kann das alles letztendlich keiner, der nicht zumindest mittelbar betroffen ist. Aber der Leser begreift, dass der saloppe Ausspruch: „Der war doch Millionär, der hätte doch einfach aufhören können“ in dieser Geschichte keinen Platz hat.
Es gelingt dem Autor, mit Hilfe der aufrichtigen Aussagen zahlreicher Wegefährten Robert Enkes das Bild eines hochsensiblen Menschen zu zeichnen, der keineswegs freudlos lebte, aber an seinen Ansprüchen an sich selbst zu Grunde ging. Der selber introvertiert war, aber glücklich zu schweben schien wenn in seinem Umfeld gescherzt wurde und der dann auftaute.
Alle von Reng befragten Personen aus Enkes Umfeld versichern, mit ihm außergewöhnlich positive Erlebnisse gehabt zu haben, die im harten Profi-Geschäft selten sind: von Jupp Heynckes über José Mourinho, Walter Junghans und Eike Immel, zuletzt Michael Tarnat und Arnold Bruggink bei 96 bis hin zu Youngster Sven Ulreich, den Enke einmal extra anrief um ihn zu trösten, weil dessen Trainer den Jungen vor laufender Kamera runtergemacht hatte. Ungerechtigkeit konnte er nicht ertragen, das Leid anderer litt er mit.
Der beste Mann im Tor
Enke war auf dem Platz ein sachlicher Spieler, der die Effektivität immer vor die spektakuläre Optik setzte, obwohl gerade die „Unhaltbaren“ keiner so überragend aus dem Winkel fischen konnte wie er. Nach außen wirkte er oft cool und professionell bis hin zur Unnahbarkeit. Heute wissen alle, dass das ein Schutzmechanismus des introvertierten Stars war. Ein Star, der so oft es ging ein gutes Wort auch für den vermeintlich Kleinsten hatte. Den scheinbar nichts umhauen konnte und der doch so verletzbar war. Der verletzt wurde, diese Verletzungen aber erst selbst bis zur Hybris überzeichnete, weil er den Schalter nicht mehr fand und dem am Ende niemand helfen konnte, obwohl es sein Umfeld immer wieder versucht hatte:
Seine ihn über alles liebende Ehefrau, der nach langer Zeit zum Freund gewordene Berater Jörg Neblung, sein bester Freund Marco Villa, Trainer Ewald Lienen, Mannschaftskollege Hanno Balitsch, dem Enke sich kurz vor seinem Ende anvertraute, Psychiater Valentin Markser, die eingeweihten Freunde seines Dorfes Empede und seine Eltern, die hilflos seinen Niedergang mitansehen mussten, obwohl der Vater selber Psychotherapeuth ist.
Sie alle haben nicht versagt, denn niemand aus dem Umfeld ist Schuld, wenn der an Depression Erkrankte nur noch diesen einen vermeintlich erlösenden Ausweg sieht und anstrebt; und niemanden mehr in sein Inneres blicken lässt. Wenn nicht mal die Adoption einer zweiten Tochter den Sinn des Lebens zurückbringt. Wenn alles nur noch "Raus hier!" schreit. Wie furchtbar muss das sein.
Abschied in Würde
Der Selbstmord Robert Enkes war kein Freitod. Es war der letzte Ausweg eines sehr kranken Mannes aus seiner subjektiven Hölle auf Erden. Materiell hat er alles erreicht, aber das war zu keinem Zeitpunkt seines Lebens ein Kriterium für erfülltes Glück.
Ich habe das Buch in einer Nacht, in sieben Stunden, in einem Zug durchgelesen. Es ging nicht anders, ich konnte nicht aufhören. Für Momente vergisst man dabei ganz, das Robert tot ist und nie mehr irgendwohin zurückkehrt. Mindestens dreimal musste ich weinen, mindestens dreimal sehr lachen. Ein Unentschieden, trotz des bekannten, unglaublich traurigen Ausgangs der Geschichte. Robert hätte das Ergebnis gefallen.
Die Ereignisse kurz nach seinem Tod nahmen viele vor einem Jahr wie durch einen Nebel wahr: die frühe Pressekonferenz mit Teresa Enke, der Trauergottesdienst mit Bischöfin Margot Kässmann und die etwas opulent geratene Trauerfeier vor 40.000 Fans im Stadion von Hannover. Damals hatte seine Mutter gesagt: “Warum bahren sie ihn denn da so auf, er ist doch nicht Lenin…“ aber sie hat heute erkannt, dass die Menschen einfach in so großer Zahl ihre Anteilnahme bekunden wollten, so dass es am Ende doch ein würdiger Abschied war.
Robert Enke hat die Angst vor der Angst auch nach zähem Ringen nicht besiegen können. Nicht nur in Hannover, sondern europaweit wird er als Ausnahmeerscheinung des Profi-Fußballs in Erinnerung bleiben. Auch dank dieses sehr bewegenden Buches.
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Robert Enke – Ein allzu kurzes Leben, Piper Verlag München, Autor: Ronald Reng, September 2010, 432 Seiten, mit zahlreichen s/w Abbildungen im Text, Gebunden,€ 19,95 [D], € 20,60 [A], sFr 30,50, ISBN: 9783492054287