Das war Sonntagmorgen. Die Stralsunder Ziegelgrabenbrücke blieb geschlossen. Sturm- Und Eispause! Eigentlich sollte der norwegische Frachter „Wilson Husum“ auslaufen. Auch ihm hat das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Zu viel Nordost-Wind“, begründete der Norweger Haugen seine Entscheidung, „der drückt das Eis in den Greifswalder Bodden, da wird ´s schwer sein durchzukommen“. Schon das Einlaufen sei problematisch gewesen. Der hohe Seegang habe es für den Lotsen extrem gefährlich gemacht, überhaupt an Bord zu kommen: „Wir dachten schon, das auf und nieder sausende Lotsenboot würde auf die Ladeluke katapultiert werden“.
Full power voraus!
Über Nacht flaut der Wind ab. „Klar vorn und achtern!“ gibt der Kapitän das Kommando. Die Leinen klatschen ins Wasser. 08.20 Uhr: Die Fahrbahnen der Brücke recken sich müde in den fahlen Morgenhimmel. Behutsam fädelt Lotse Mathias Kreysler den 90 Meter langen und 5,85 Meter tief abgeladenen Bulkcarrier durch das Nadelöhr. An Backbord wird der Eisbrecher „Arkona“ passiert. „Den brauchen wir heute nicht“, meint Kreysler optimistisch und richtet seinen Blick auf die elektronische Seekarte. Die zeigt ihm genau die schmale Fahrrinne an. Voraus ein heller Schimmer: Eis! Die Stralsunder Ostansteuerung ist dicht, von Ufer zu Ufer. Die beiden Männer bleiben gelassen, zumal die „Arkona“ noch in der Nacht eine Spur gezogen hat.
Hinter der Fähre Glewitz – Stahlbrode verschlechtert sich die Sicht. Die eine oder andere Tonne zeigt Schräglage. „Macht nichts“, lacht Haugen, und zeigt auf seine Monitore. „Bald kommt die kritische Stelle“, prophezeit Kreysler indes. Er meint die schiffsenge Palmerort-Rinne am südwestlichen Zipfel der Insel Rügen. „Die Geschwindigkeit fällt ab“, informiert er den Kapitän. „Full power!“ schiebt Kreysler sofort den Maschinentelegrafen nach vorn. Dicke Schollen schieben sich knirschend und krachend an den Bordwänden entlang. „Wilson Husum“ schleicht durchs vorpommerschen Eismeer. Trotz 2826 PS wird der Frachter immer müder. „Nur noch 2,6 Knoten!“ meldet der Lotse dem Kapitän den rasanten Geschwindigkeitsabfall. Der schaut sorgenvoll aus der Brückennock nach unten. Was man denn mache könne bei völligem Stillstand? „Da bleibt nur noch eins“, antwortet Kreysler, „warten, bis der Eisbrecher kommt“. Bei seinem Tiefgang hätte der hier Probleme, erklärt der Kapitän, überhaupt an den Frachter heranzukommen.
Schaukelpartie mit Gips
Hinter Rügens Südostkap – „Palmen würde ich hier lieber sehen“, grinst der Lotse, dessen Lieblingsfahrtgebiet als Frachterkapitän einst die Karibik war – entspannt sich die Lage. Arnar Haugen fühlt sich von Palmerort animiert und zeigt auf seinem Laptop sommerliche Urlaubsbilder. Bei der Tonne „Ariadne-Grund“ prescht „Wilson Husum“ wieder voran. Der Lotse meldet „Stralsund Traffic“, der Verkehrszentrale, die aktuelle Eisdicke in diesem teil des Reviers: 30 bis 50 Zentimeter.
In der Landtiefrinne, dem schmalen Fahrweg zur offenen Ostsee, beginnt „Wilson Husum“ zu nicken. Die Wellenhöhe nimmt zu. Die Nachwehen des Tiefs „Daisy“ rollen als ruppiger Schwell in den Greifswalder Bodden. Das Vorschiff schöpft Wasserbärte aus den grauen Wellentälern. Als der Kurs auf Saßnitz geändert wird, kommt ein magenunfreundliches Rollen hinzu. Der Wind treibt Schneeflocken waagerecht vor sich her. Immer noch mit sieben bis acht Beaufort-Stärken.
Voraus ein torkelnder orangefarbener Punkt: das Lotsenboot. Es wühlt sich, von Gischtwolken überzogen, durch die schweren Seen. Sein Stationshafen ist vom zugefrorenen Freest nach Saßnitz verlegt worden. „Wir können euch hier nicht übernehmen“, gibt der Bootsführer über Funk durch, „Seegang zu grob!“ Als „Wilson Husum“ dann auf den Fährhafen Mukran zu dreht, beruhigt sich das Schiff, denn die Wellen schieben jetzt von achtern.
Als der Frachter in den Hafen eindreht, wartet die Scandlines-Fähre „Trelleborg“ bereits. Im ruhigen Hafenwasser stoppt „Wilson Husum“ auf und dreht bei. Lotsenboot „Muttland“ schmiegt sich an die Bordwand, so dass Seelotse Mathias Kreysler gefahrlos absteigen kann. „Und Tschüß bis nächste Woche!“ verabschiedet er sich und winkt kurz zur Brücke hinauf. „Wilson Husum“ nimmt wieder den Kampf auf gegen die von vorn anrennende See. 4000 Tonnen Kraftwerks-Gips aus dem brandenburgischen Jänschwalde müssen sich noch zwei Tage gedulden, bis sie im südnorwegischen Drammen gelöscht werden können.