Woher kommt dieser brutale Humor, dieses direkte Ablauschen und Hinsehen? Wie erklärt der Schöpfer Olaf Schwarzenbach alias OL seinen Kosmos selbst? Begründet die Herkunft die Gegenwart? Müssen wir wirklich wissen, über welche Spielplätze ein Künstler gekrabbelt ist?
Leser der just erschienenen „Geschichte von OL“ werden nicht enttäuscht oder gelangweilt. Sondern berührt und bezaubert. Hier erzählt jemand wahrhaftig Geschichte, ohne Beschönigungen und Prahlereien.
Auf Seite 31 beginnt die eigentliche Kindheit und endet auch schon wieder. „Meine Mutter starb am 9. September. Sie war einundzwanzig, zum zweiten Mal schwanger und nahm sich elf Tage vor meinem dritten Geburtstag das Leben.“ Olaf Schwarzenbach wächst bei Tante und Onkel auf, mit seiner Cousine als Schwester. Wie die Familie seiner Mutter mit der Tragödie umging, wird aus Briefen der beiden Schwestern deutlich, die übrig blieben. Und sich jahrzehntelang schreiben, von Ost nach West und umgekehrt, bis Olaf flügge geworden ist und selbst das Land wechselt, zu Tante Ingrid. Dazwischen liegen gut 300 Seiten Erzählfragmente, mit Überschriften versehen wie: Kindergarten, Bücher und Comics, TV, Biermann. Anderen Lebensläufen in DDR nicht unähnlich und doch sehr einzigartig. Schwieriges Kind, Einzelgänger mit unangenehmem Spitznamen. In der Pubertät die Rache, Suff, Verweigerung, Rausch.
„Das Rauchen und alles Militärische hatte sich früh erledigt. Jeden Sonnabend, wenn ich aus der Schule kam, sah ich verwahrloste Männer in gelben Unterhemden und ausgebeulten braunen Trainingshosen auf den Parkplätzen des Neubaugebiets stehen, NVA-Offiziere, die ihre Autos einseiften und über die Straßen brüllten, knapp und zackig, wie sie es aus der Kaserne kannten. Und immer waren es Sachsen. Niemals, schwor ich mir, würde ich mir von solchen Idioten etwas befehlen lassen.“
Ein Land wie ein bleiernes Tuch, das sich über alles Bunte legt und es erdrückt. Auch der Keimling OL; wie er sich aus Jux und Dollerei nennt, wird misstrauisch beäugt, sobald er zu bunten Stiften greift. Dazwischen Feten, eine Lehre zum Offsetdrucker, Fahrten nach Halberstadt, Knüppel ohne Grund und dennoch: Hierbleibenwollen. Freunde, die gehen, die große Liebe in einer anderen Stadt. Und ein schlacksiger Junge, der sich in ein leuchtend blaues Supermann-Kostüm wandet und mit dem Rad durch das Grau schwimmt. Siehe Cover, unser OL. Von der Stasi in ihren Überwachungsakten liebevoll „Forelle“ getauft. Verhöre, Verhaftungen, Ausstellungseröffnungen in Wohnzimmern, Punk und Suff in Potsdam und Berlin-Prenzlauer Berg. Ein ganzes Land schlittert dem Untergang entgegen. Bei Partys, die Dabeigewesenen wie endlich nachgelieferte Protokolle anmuten, lässt der schüchterne OL sich gehen.
„Wenn ich tanzte, hatte ich die Angewohnheit, mich nach kurzer Aufwärmphase auszuziehen und wie ein Derwisch mit nacktem Oberkörper in einer Mischung aus Pogo und spartanischem Anfall durch die Gegend zu springen.“ (S.259: das dazugehörige Foto)
Als wären solche sprachlichen Auslassungen nicht ausreichend, hat der Berlin-Verlag keine Kosten gescheut und dem Buch alle paar Seiten s/w Fotos beigefügt, kongeniale Texterweiterungen. Auszüge der Stasi-Überwachungs-Akte, Briefe und wieder Fotos. Eine sanfte, humorvolle Sprache, geprägt durch genaues Hinsehen und größtmögliche Einfühlung. Gespeist mit dem Trotz eines Individualisten. Abgerundet durch ein feinfühliges Lektorat von Katja Lange-Müller (best denkbare Mentorin für dieses Buch) ist ein Klassiker entstanden, der nachwachsenden Generationen die DDR besser erklären wird, als der Geschichtsunterricht es vermag.
Wie es weiterging? Sei hier nicht verraten, lesen Sie selbst! Nur soviel als Überleitung zur Gegenwart: „Im Sommer 1990… zeichnete ich Geschichten mit Strichmännchen, die waren am einfachsten: Dreiecke, Kugeln und Striche dran… Die „Geschichte von den drei Musketieren“ erschien drei Tage vor Weihnachten. Kowalski bezahlte 900 Mark dafür. Das waren 300 Mark mehr als mein Schüler-Bafög… Ich brauchte kein Abitur. Ich schmiss die Schule, zog zurück nach Berlin und wurde Comic-Zeichner.“ Danke, OL!
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Olaf Schwarzbach, Forelle Grau, Die Geschichte von OL, 320 Seiten, Berlin Verlag, Februar 2015, ISBN: 978-3-8270-1179-4, Preise: 19,99 € [D], 20,60 € [A], 28,90 sFr.
Lesung und Gespräch: 11. April, 20:30 Uhr, OL liest aus "Forelle Grau" // OL im Gespräch mit Igor Tatschke (AG Mauerstein) Café Seeblick, Rykestraße 14 , 10405 Berlin