Dieser Film macht einsam – „Antichrist“ von Lars von Trier zwischen Genialität und Grauen

Willem Dafoe in "Antichrist"

Wir finden an Lars von Triers filmischer Zumutung genial, wie es ihm gelingt, uns im schönsten denkbaren Filmanfang tiefes Glück angesichts von Liebenden empfinden zu lassen, was in tiefen Schmerz, ja Angst umschlägt, als aus der Aufeinanderbezogenheit der Eltern und dadurch bedingter Aufsichtsvernachlässigung das gemeinsame kleine Kind aus dem Fenster in den Tod stürzt. Die Mutter – im Film ohne Namen und immer nur „sie“ genannt und buchstäblich verkörpert von Charlotte Gainsbourg -, die sich schuldig fühlt, erlebt dieses Trauma als unauflöslich und landet in der Psychiatrie. Ihr Mann, also „er“ und hier Willem Dafoe, ist Psychotherapeut und übernimmt zunehmend die Behandlung seiner Frau, so widerwärtig bestimmend und eben – mit guten Argumenten – besserwisserisch, daß wir gefühlsmäßig völlig auf Seiten der behandelten Frau stehen. Er entscheidet, daß sie ihre Phobien, am stärksten die vor dem Wald, der Natur, inmitten des Waldes aufarbeiten müsse und zwingt sie, sich dem zu stellen und damit auch dem Aufenthalt in der selben Waldhütte – die ausgerechnet Eden heißt – vom Sommer zuvor, wo sie ihre Doktorarbeit über Hexenverfolgungen fertigstellen wollte, aber nicht konnte. Noch immer sind wir völlig auf ihrer Seite. Dann allerdings passieren erst unerklärliche Dinge, die immer stärker unsere Gefühle und Einschätzung der handelnden Personen über den Haufen werfen, schließlich umkehren. Der Ehemann ist es auf einmal, dem unsere Sympathie gilt und dem wir das Überleben angesichts der grauslichen Anschläge seiner Frau wünschen. Das geht so weit, daß wir sie, die doch Objekt unseres Mitleids war, den schnellen Tod erleiden lassen wollen, damit das Grauen ein Ende hat. Möglichst schnell, Hauptsache tot.

Was daran das Geniale ist, ist Zweierlei. Lars von Trier führt uns, er manipuliert uns in eine Gefühlskette, der man, nein, wir nicht entkommen können und die er mit rein filmischen Mitteln herstellt. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Darum macht man ja Filme, das ist ja das Verführerische des Mediums, mit filmischen Mitteln Gefühle zu transportieren und zu lenken. Was aber das Ungewöhnliche daran ist, daß man beim eigenen Gefühlsrausch und Gefühlschaos den Film entlang, immer als zweite Stimme – wie eine Regieanweisung – hört, weshalb wir jetzt zu diesen Gefühlen und den Gefühlsschwankungen, dann der Umkehrung kommen. Der Film selbst setzt der Manipulation gleichzeitig die Aufklärung über diese gegenüber, so daß man genauso gut mit Recht von einem aufklärerischen Film wie von einem manipulativen sprechen kann. Dies gelingt Lars von Trier, indem er Bilder schafft in einer Filmwelt, die doch eigentlich alles schon einmal abgebildet hat. Den Liebesakt, die Musik, das Schneegestöber, später einen Wald, wie man ihn ambivalenter gar nicht fotografieren kann, wo Ruhe und Schönheit des Waldes in wenigen Überblendungen in grauenhafte, verschlingende, mit Würmern und Maden zersetzte Fäulnis der Natur übergehen, übrigens genau die beiden Pole, die schon die deutsche Romantik der Natur zuschrieb und in Gedichten symbolisierte. Eigentlich müßten aufgrund der literarischen und volksimmanenten Tradition gerade die Deutschen diese einfach wahre Ambivalenz des schönen deutschen Waldes akzeptieren können. Und auch aufgrund der Geschichte, daß der Mensch ein rätselhaftes Wesen bleibt und ihn innere Kräfte treiben, die auch die Psychoanalyse und Psychotherapie nicht immer entschlüsseln und schon gar nicht heilen können, auch.

Von daher sahen wir „den Mann“ und „die Frau“ hier nicht als naturhafte Wesen, an denen Lars von Trier die Geschlechter symbolisieren will, eben den moralisch guten, integren Mann und die am Schluß hexenhafte Frau als Metapher des Geschlechtlichen – das finden wir geradezu albern, dem Regisseur Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen und ihm ernsthaft zu unterstellen, er glaube an die Hexe in der Frau – , wir sahen vielmehr eine andere Zuordnung, in der dem Mann die Ratio und der Frau das Gefühl und die Natur zugeschrieben werden. Das aber ist etwas anderes und mag tatsächlich in irrationalen Ängsten vieler Männer vor der „Gewalt“ der Frau seine Wurzeln haben, auch im Regisseur selbst, denn Frauen sind ihnen unberechenbar, naturhafte Wesen und wie die Natur nicht beherrschbar, kontrollierbar, sondern ausufernd und abseits moralischer Wertungen wie der Wald, in dem neues Leben genauso geboren wird, wie altes abstirbt, aber auch junge Triebe und junge Tiere ausgerottet und gemordet werden. Natur eben.

Damit wollen wir uns eigentlich gar nicht aufhalten, denn das Sensationelle an diesem Film sind tatsächlich die Bilder auf der Leinwand, die extrem schön sind, wenn Kameramann und Regisseur das wollen, und extrem grauenvoll, häßlich, angsterregend und einen schüttelnd, wenn die beiden Bilderversteher die Schraube rumdrehen. Und wie sie das machen, ist meisterhaft. Wir glaubten, noch nie einen so schönen Filmanfang erlebt zu haben. Zu den innigen Klängen „Lascia ch’io pianga“, einer Arie aus Händels „Rinaldo“ lieben sich zwei, erst ein wenig unter der Dusche, dann immer leidenschaftlicher mit der Musik in der Horizontalen, während die schwarzweiß gedreht Szene draußen den leise fallenden Schnee zeigt und eine Entrückung produziert, in der, als in Großaufnahme das Glied des Mannes von der Scheide der Frau aufgenommen wird, das so schön und selbstverständlich ist und unser augenblickliches Erschrecken nur der Tatsache gilt, wozu Schauspieler heute beim Drehen bereit sein müssen – nachher stellt sich heraus, daß diese Szene von namen- und auch kopflosen Pornodarstellern dargestellt wurde, was uns erleichtert hat. Diese Liebesidylle findet ein Ende, als der Sohn mit den Klängen der Musik zu fliegen anfängt und mit dem Orgasmus drunten zerschellt. Dabei ist eine kleine Begebenheit, der wir nicht vorgreifen wollen, die aber beim genauen Hinschauen auf etwas aufmerksam macht, was wir später im Film durch das dem Kind die Schuhe seitenverkehrt Anziehen, als bewußte Quälattacken der Mutter erkennen.

Die schauspielerischen Leistungen der beiden Protagonisten – andere kommen nicht vor – sind grandios, weil sie es durch ihr Spiel in Verbindung mit den Bildern der Außenwelt zuwege bringen, daß sich unsere Gefühle in die gewünschte Richtung manipulieren lassen. Und hat jemals jemand einen deutschen Wald so zwielichtig auf den Punkt gebracht: so schön, so lichtdurchflutet, so schrecklich, so nachtdunkelschwarz. Und dort passieren dann Auswüchse, die nicht gesehen zu haben, einem lieber wäre, weil sowohl die Szene, in der die Frau ihrem Mann einen Schleifstein samt Gewinde durchs Bein bohrt und festschraubt und den Schraubschlüssel wegwirft, davor und danach zertrümmert sie ihm die Genitalien und entweiblicht sich selbst, einem ins Gedächtnis gebrannt sind. Was der Regisseur damit wirklich ausdrücken wollte? Das fanden wir gar nicht mehr wichtig. Als kleinster gemeinsamer Nenner vielleicht, was passiert, wenn man die Büchse der Pandora öffnet, wenn die vom Psychotherapeuten rational versuchte Heilung in der Irrationalität mündet – den Christ gewollt, den Antichrist bekommen – und erst das so richtig in der Frau freisetzt, was diese selbst durch ihre Depression unterm Deckel halten wollte. Der Interpretationen mag es viele geben. Wir haben Bilder gesehen, schöne Bilder und schreckliche Bilder, surreale Bilder, die uns nicht mehr loslassen. Und weil das so ist und uns tief erschüttert hat, können wir weder lachen, noch die Sache abtun, sondern müssen sagen, hier hat einer mit den Mitteln des Kinos einen großen, einen verstörenden Film gemacht: Lars von Trier mit seinen kongenialen Schauspielern Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe.

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Titel: Antichrist

Genre: Horror

Land/Jahr: Dänemark/Deutschland/Frankreich/Italien/Schweden 2009

Kinostart: 10. September 2009

Regie und Drehbuch: Lars von Trier

Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe

Verleih: MFA + Filmdistribution

FSK: Keine Jugendfreigabe

Laufzeit: 104 Minuten

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