Die Verarmung unserer Vorstellungskraft durch die Wunder der Technik – Serie: „Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit. Courbet, Hopper, Gursky”¦“ in der Hypo-Kulturstiftung München (Teil 3/3)

Cagnaccio di San Pietro, Primo denaro, 1928, Öl/Holz, 59,5 x 79,5 cm, Courtesy Claudia Gian Ferrari, Mailand

Aber jetzt in einem neuen Raum sind wir begeistert: Industriebilder. Man sieht sie so selten und denkt sofort an die tolle Ausstellung vor Jahren im Gropiusbau in Berlin, aber sieht dann auf den zweiten Blick, daß es nicht die imperiale Darstellung der Gründerzeitdynastien in ihren Fabriken ist, sondern moderne „Landschaft an der Emsch“ von Heiner Altmeppen, Acryl auf Leinwand 2008 und Alsumer Berg, 2005, von Bernd Schwering, ebenfalls ein sehr großes Gemälde in ein Industriegebiet eingebettet in Grün mit rauchenden Schloten ’schön’ wird und wie ’in echt’, also wirklich und wahr erscheint.

Diese Bilder sind menschenleer und stärker auf die Landschaft bezogen als unsere der repräsentativen Vorbilder der Krupps oder anderer Industriebarone, die doch eher in die Abteilung Historienbilder gehören und am Ende des Raumes liest man dann als Wandtext auch „Landschaft“ und versteht den Zusammenhang, beispielsweise mit „Dubai World III“ des Andreas Gursky, eine Fotografie von 2008, C-Print. Diese hatten wir gerade in Paris in der Ausstellung „Dreamland“ gesehen, wo sie – wie hier – ein Beispiel war für die ebenfalls imperiale Geste, zu der Dubai glaubte, die finanziellen Mittel auf Dauer aufbringen zu können: künstliche Inseln, in der Anhäufung so in das Meer gesetzt, daß der Blick von oben die Form der Erde wiedergibt, man sieht Nord-und Südamerika, Europa mit dem Appendix Afrika und in der Breite nach rechts der asiatische Kontinent, wo unten rechts im Meer gerade noch Australien vorkommt. Einfach schön und atmosphärisch „Waalweg, Nebel, von Thomas Dillmann, 2005, ein Foto, das von sich selbst noch nicht weiß, ob es positiv verträumt stimmungsvoll bleibt oder gleich ein Mord geschieht.

„Stadt“ ist der nächste Raum benannt und kommt als Thema der Malerei seit dem 17. Jahrhundert vor. Auch die Stadt kam in den christlichen Bildern vor, als Heiliges Jerusalem auf den Kreuzigungsbildern, also eingebettet in Landschaft. Man sieht von Adolph Menzel ein Aquarell mit Deckfarben, Malcolm Morlys „House in Brooklyn“, ein Großbild in den Maßen 228,6 x 166,5 Zentimeter, Stefan Mauck hat „DEBEKA“ beigesteuert und während man sich die Bilder, die jedes für sich stehen, anschaut, empfindet man, daß diese Bilder insgesamt für ein Thema wie „Stadt“ zu dünn sind, daß vielleicht diese didaktisch angebrachte Unterteilung in die verschiedenen Teilbereiche der Malerei, dann für jedes Teilthema zu wenig Raum lassen, es repräsentativ wirken zu lassen, zumal ja auch noch das Oberthema „Realismus“ die entscheidende Rolle spielen soll.

Aus unserer Freude über viele schöne Bilder, hat sich nach und nach ein Bedauern entwickelt, daß so viele Themen dann zu kurz kommen, d.h. dann auch zu oberflächlich abgehandelt sind. Denn die gehängten Bilder zu „Das Interieur“ beispielsweise zeigen es zwar, aber unter dem Gesichtspunkt des „Realismus“ erwartet man jetzt eine Auseinandersetzung mit der dargestellten Wirklichkeit. Die findet in der Ausstellung nicht statt. Weder theoretisch, noch durch die Bilder selbst, die ja auch zu einander sprechen könnten, in ihrem Anspruch „wirklich“ zu sein. Tun sie aber nicht. Das einzige, worüber sich Besucher in der Ausstellung unterhalten, ist, ob ein Werk aus der Ferne eher wie ein Gemälde aussieht oder wie eine Fotografie. Von Nahem sieht man es eh. Peter Hauenschied/Georg Ritter haben mit „Bildträger“, einem 205 x 388 Zentimeter großen Pastell auf Papier einen horror vacui geschaffen, was uns gefällt und Candida Höfers „Goethe-Nationalmuseum, Weimar IV, eine quadratisches Fotografie von je zwei Metern aus dem Jahr 2006, sieht eher aus wie ein Alptraum denn ein Zimmer. Dabei ist es ein echtes Foto.

Im nächsten Raum sieht Eduard Manets „Distel“, 1880, aus wie eine gefährliche fleischfressende Pflanze und Alexander Kanoldts „Stilleben“ 1922, ist ein in seiner unheimlichen Nahsichtigkeit bedrohliches und wunderbares Stück Leinwand, aber der Zusammenhang mit den danebenhängenden dramatischen Unfallautos erschließt sich nicht, denn die Generalisierung als Stilleben ist irgendwie eine künstliche Klammer. So gehen wir ein wenig bedauernd von dannen, weil die Erwartung an das Thema „Realismus“ höher war, dabei haben wir schöne Bilder gesehen. Vielleicht langt das auch. Überraschend dann der 35 mm Film (2001), wo Sam Taylor Wood, die Londonerin, wieder einmal voll ins Leben greift. Realistischer geht es nicht, wie vor uns aus einem appetitlichen Fruchtkorb Einstellung auf Einstellung auf am Schluß doch quälenden 3:44 Minuten Länge eine total verschimmelte Angelegenheit wird, die so eklig aussieht, daß man glaubt, man könne danach kein Obst mehr essen. Doch dann beginnt der Film von vorne und zeigt erneut die prachtvollen Früchte, Birnen, Äpfel, Pfirsiche, Trauben, ein herrliches Stilleben im Obstkorb, eine überraschende Arbeit.

Stilleben wurden ’modern’ im 17. Jahrhundert in den Niederlanden, wo der reiche Bürger zeigte, was er hatte, wozu die romanische Sprachwelt „Tote Natur“ sagt. Im Barock sind diese Stilleben vom Anspruch her die perfekte Illusion der Wirklichkeit, verschlüsseln aber die inhaltliche Aussage der Vanitas, der Vergänglichkeit der Natur, des Lebens. Das verbindet Taylor Wood mit der Barockzeit. Was früher durch Anschauen der Bilder im Kopf der Betrachter geschah, deren Deutung auch der Betrachter vornehmen muß, setzte voraus, daß er diese Bilder lesen konnte und kann, daß er also die Attribute des Wurms, der Fliege, u.a. in ihrer Konsequenz für das Bild verstand, ein Wissen, das heute Expertenwissen ist. Und dann findet man auf einmal, daß es eine Verarmung ist, daß wir nicht mehr mit Symbolen an und in der Wirklichkeit arbeiten, sondern daß – wie es Taylor Wood vormacht, – in der digitalisierten Welt auf wundersame Weise sehr anschaulich der Vergänglichkeitsprozeß zusammenschnurrt und ihn uns deutlicher zeigt, als wir es vielleicht sehen wollen, aber gleichzeitig die Dimension der Andeutung dessen, was kommt, wegnimmt. Was also ist Realität, fragen wir uns am Schluß. Was bildet sie wirklicher ab, so ein Film oder ein Bild mit Symbolen? Allein, daß sich solche Fragen stellen, ist ein gutes Zeichen und zeigt, daß man aus dieser Ausstellung viele Fragen mitnehmen kann.

Bis 5. September

Die Ausstellung geht leicht verändert in die Kunsthal Rotterdam.

Katalog: Realismus. Das Abenteuer der Wirklichkeit, hrsg. von Christiane Lange und Nils Ohlsen, Hirmer Verlag 2010

Der Katalog bildet nicht nur alle Bilder der Ausstellung ab, sondern handelt die Themenstellung „Realismus“ auch durch kunsthistorische Aufsätze ab, in denen nach `Bild und Wirklichkeit` – als Ausgangspunkt genommen – gefragt wird, „Wie kommt die Wirklichkeit ins Bild?, geht es weiter und eine“ Begriffsbestimmung Realismus“ wird vorgenommen. Dies setzt voraus, daß auf die Fotografie eingegangen werden muß und Courbet die Hauptrolle spielt. Sehr hilfreich ist am Ende die alphabetische Auflistung der Künstler und ihrer Werke, bei denen die Seitenzahl der Abbildung zugefügt ist. Der Katalog zeigt, daß die Ausstellung auf ihren Stationen Bilder verliert und gewinnt, ein normaler Vorgang auf Ausstellungwegen, weshalb aber die Kataloge umfassender als die Ausstellungen sind.

www.hypo-kunsthalle.de

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