Die Polderprovinz Flevoland oder Leben unter dem Meeresspiegel – Landgewinnung am Ijsselmeer

„Sitzender Mann“ an der Land-Art-Route. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Almere, Niederlande (Weltexpress). Vor den Toren von Amsterdam entwickelt die Polderprovinz Flevoland eine ungeahnte Attraktivität.

Schutzsystem im Poldergebiet. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Das Meer versteht keinen Spaß. Im Gegenteil! Mit seinen ständigen Angriffen auf die Nordseeküste erwies es sich zu allen Zeiten sogar als ausgesprochen humorlos. Dann war „Holland in Not“, und seine Bewohner bangten um ihre Zukunft. Dabei ließen sie nichts unversucht, um mit allen verfügbaren Mitteln der blinden Zerstörungswut launischer Naturgewalten Einhalt zu gebieten, mit Deichen, Dämmen du Barrieren.

Als besonders gefährlich erwies sich die holländische Zuiderzee. Sie galt es zu zähmen und dabei sogar noch ihre Küstenregion besser nutzbar zu machen. In mühevoller Arbeit gelang es schließlich, der Zuiderzee ein großes Teilstück abzuringen. Vier Meter unter dem Meeresspiegel entstand damit die größte von Menschen gemachte Polderfläche der Welt mit dem Namen Flevoland. Doch konnte man dem Jahrhundertwerk auch trauen? Ängstliche Siedler sorgten mit einem Rettungsboot auf dem Dachboden für zusätzliche Sicherheit. Doch ernteten sie damit häufig nur den Spott ihrer Nachbarn.

Welt der Landgewinnung

Boote auf einstiger Schokland-Insel. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Wer in diese aufregende Welt der Landgewinnung eintauchen möchte, den erwartet das Batavialand-Museum in Lelystad. Hier ist Museumsführer Maarten Hofstra ganz in seinem Element. Mit Kartenmaterial, Werkzeug und Fotos aus jener Zeit demonstriert er den allmählichen Übergang vom Meer zum Polder. Mit dem Ergebnis, dass die Zuidersee im wesentlichen auf die Fläche des heutigen Ijsselmeeres zurückgestutzt wurde.

Mit der Trockenlegung des Meeresbodens, so erklärt Maarten, wurden auch bereits 435 Schiffswracks entdeckt. Historische Fundstücke, deren Musterexemplare längt darauf warten, näher inspiziert oder gar geborgen zu werden. So wie beispielsweise das in einer der Ausstellungshallen präsentierte Wrack eines „Heringsjägers“. An ihm lässt sich noch heute erkennen, wie der Fischfang zur Zeit seines Untergangs zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Bord organisiert war.

Inselstädtchen Urk

Bauensemble in Urk. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Vom Fischfang lebte auch das malerische Inselstädtchen Urk. Mit dem Absinken des Wasserspiegels hat ein Ausläufer der Polderfläche von der einstigen Insel Besitz ergriffen und sie auf diese Weise in eine Halbinsel verwandelt. Jan van Urk war früher Hafenmeister in dem kleinen Fischereihafen. Heute zeigt er, stilvoll gekleidet mit der Traditionstracht der Inselbewohner, die schmucken Gässchen, Plätze und Häuserfassaden seiner Heimatstadt. Besonders der alles überragenden Leuchtturm sowie die anrührende Skulptur einer wartenden Fischersfrau haben es ihm angetan.

Eine kleine Geschichte will er seinen Zuhörern dann doch nicht vorenthalten. Sie bezieht sich auf einen kleinen von der Gischt umspülten Felsen unterhalb des Leuchtturms, der hier in Konkurrenz tritt zu dem guten alten Klapperstorch. Denn genau hier, so erzählt man es dem staunenden Nachwuchs, werden die neuen Erdenbürger aufgefunden, die Jungen auf der vorderen und die Mädchen auf der hinteren Seite. Sofort nach Entdeckung eines lebenden Fundstücks rudert der Vater mit einer Tochter hinüber, um es umgehend zu bergen.

Flutopfer Schokland

Reusen-Reparatur in Urk. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Ähnlich wie mit Urk verhält es sich auch mit dem einstigen Inselchen Schokland. Länglich gestaltet wie eine Banane, fiel es in stürmischen Nächten mehrfach den tosenden Wogen zum Opfer. Nun allerdings findet es sich wieder inmitten einer ausgedehnten Polderfläche und erinnert mit seiner neu errichteten Kirche an die Schrecken, die der stets gefürchtete „Blanke Hans“ hier einst verbreitete.

Ein gepflegtes Museum lenkt den Blick zurück in jene uralten Zeiten, als hier unter ganz anderen klimatischen Bedingungen noch Nashörner, Säbelzahntiger und Elefanten durch das Buschwerk streiften. Sicherlich sind ihnen der Vater und sein Kind nicht mehr begegnet, deren Fußspuren sich deutlich im Uferschlamm abzeichnen. Es sind die ältesten bekannten Fußabdrücke von Menschen in ganz Europa.

Wildsafari und Land-Art

Eingang zum „Nieuw Land“-Nationalpark. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Ein Hauch von Wildnis durchzieht neuerdings auch den „Nieuw Land“- Nationalpark, der seiner Vollendung entgegenwächst. Hier lädt Förster Hans-Eik Kuypers ein zu einer Safari auf dem einstigen Meeresgrund, den man sich bei wuchernder Vegetation an diesem Ort kaum mehr vorstellen kann. Auch die Herden weidender Rinder und Pferde vermitteln den Eindruck einer Schöpfung aus dem Nichts, wie die neu zugezogenen Sing- und Wasservögel im wogenden Schilfgras. Fantastisch!

Als ebenso attraktiv erweisen sich die gigantischen Kunstwerke von Künstlern aus aller Welt, die entlang der „Land-Art-Route“ auf der gesamten Polderfläche im eigenen Fahrzeug entdeckt werden können. Als eine der eindrucksvollsten Kreationen erweist sich ein riesiger „Sitzender Mann“ Er entstand aus ineinander verschachtelten Stahlstreben einstiger Starkstrommasten. Eine ähnliche Faszination verbreitet die „Grüne Kathedrale“. Allerdings wurde sie nicht errichtet mit massiven gotischen Steinquadern. Vielmehr wuchs sie auf natürliche Weise aus steil in die Höhe schießenden schlanken Laubbäumen.

Architektonische Wunderwerke

Irritierende Architektur in Almere. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Auf andere Art kunstvoll erweist sich die Polderstadt Amere. Ihr künstlerisches Kapital sind die modernistisch gestalteten Häuserfassaden ganz unterschiedlicher Architekturstile. Darunter auch Bauwerke, die ohne den rechten Winkel auszukommen scheinen und ihre Fassadenfronten auf ganz unkonventionelle Weise präsentieren. So ergeben sich selbst für das geübte Auge immer wieder Orientierungsprobleme, die jedoch die Neugier wecken.

Gleich einem Wunderwerk architektonischer Ausgestaltung erscheint die Bibliothek im Stadtzentrum. Als ein Ort kreativen und ungezwungenen Lernens lädt sie ein, sich in die thematisch geordnete Literatur zu vertiefen und dabei ganz nebenbei den Klängen eines Klaviers zu lauschen. Wie in der ganzen Stadt begegnen auch hier vielfache Ausblicke und Perspektiven – ein Ort, an dem das Individuum mit der Umwelt zu verschmelzen scheint.

Formen und Farben

Tulpenteppiche an der Tulpenroute. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Dies trifft auch zu für die vielfachen Blumenpräsentationen, mit denen Flevoland aufwarten kann. Allen voran die Tulpen-Pflückgärten entlang der legendären Tulpenroute. In bereit gestellten Gefäßen kann hier jeder seine persönliche Auswahl treffen aus unzähligen Blüten, die sich in langen bunten Bahnen bis zum Horizont erstrecken. Es ist wie ein floraler Rausch aus Formen und Farben, der die Sinne verwirrt und den Meeresboden vollends vergessen lässt, der sich hier einst ausdehnte.

Aus dem Rahmen fällt auch der „Orchideenhof“, der sicherlich zu den ausgefallensten und gepflegtesten Orchideengärten der Welt gehört. Riesige Gestecke hängen in Kugelform von der Decke herab und versprühen Charme und Eleganz. Dabei treten sie in Konkurrenz zu den bunten Papageien und Schmetterlingen, den Flamingos und Madagaskar-Makis. Auch sie tragen bei zu einer Welt der Wunder, die hier Realität geworden ist.

Prunkstück „Batavia“

Silhouette der “Batavia”. © 2019, Foto: Dr. Bernd Kregel

Und doch führt der Weg stets zurück zu einem der ausgefallensten Höhepunkte Flevolands. Es ist, nur einen Steinwurf entfernt vom Batavialand-Museum in Lelystad, die Nachbildung der einst vor der australischen Westküste gesunkenen „Batavia“. Als ein Prunkstück der damaligen Zeit symbolisiert sie den Machtanspruch Hollands im seinem „Goldenen Zeitalter“. Darüber hinaus setzt sie all jenen Kapitänen ein Denkmal, die zu jener Zeit auf den Weltmeeren selbst die Engländer das Fürchten lehrten. Dies ließ auch Zar Peter bei seinem Zimmermann-Praktikum an der holländischen Küste nicht unbeeindruckt.

Voller Begeisterung erklärt Schiffsspezialist Theo de Wilde die kunstvollen Schnitzereien am Schiffsrumpf und die mächtigen Aufbauten an Deck. Doch dann steht ihm plötzlich die Abenteuerlust ins Gesicht geschrieben. Nicht zufällig in dem Augenblick, als er vom Besuch der „Batavia“ in Australien bei den Olympischen Spielen im Jahr 2000 berichtet. Mehrfach habe das Schiff vor der Stadt in traditioneller Eleganz die Segel gehisst. So wurde die „Batavia“ zu einer Botschafterin Hollands und beförderte die Kunde von der neuen Provinz Flevoland bis hinüber an das andere Ende der Welt.

Reiseinformationen „Holland / Flevoland“

Anreise Flevoland: Per Flugzeug über Amsterdam, per Bahn über Zwolle oder Amsterdam. Die Anreise mit dem Auto erhöht wesentlich die Flexibilität vor Ort.

Reisezeit: Flevoland samt Umgebung ist mit seinem touristischen Angebot ganzjährig zu bereisen. Echtes Reisevergnügen erschließt sich aber vor allem im Sommerhalbjahr.

Attraktionen: Museum Batavialand zu Einpolderung, Wassermanagement, Schiffbau, „Batavia“: www.batavialand.nl;
Land-Art-Route mit Groß-Kunstwerken: www.landartflevoland.nl; Almere mit moderner Architektur: www.vvvalmere.nl; Nationalpark Nieuw Land mit Naturlandschaft: www.nationalparknieuwland.nl; Urk, altes Fischerdorf: www.visitflevoland.nl; Orchideengarten mit tropischen Gärten und Tierparks: www.orchideeenhoeve.de; Schokland als einstige Insel der Zuiderzee: www.schokland.nl; Tulpenroute mit Pflückgärten: www.tulpenzeit.de;

Unterkunft: Almere: Best Western, www.plazahotels.de; Emmeloord: Hotel ‘t Voorhuys, www.voorhuys.nl;

Essen und Trinken: Almere: Finn Restaurant, www.finnrestaurant.nl; De Beren, www.beren.nl; Schokland: Restaurant Schokland, www.restaurantschokland.nl;

Auskunft: Niederländisches Büro für Tourismus & Convention (NBTC), Richmodstrasse 6, 50667 Köln, www.holland.com/de sowie Visit Flevoland, www.visitflevoland.nl/de;

Unterstützungshinweis:

Die Recherche wurde unterstützt vom Niederländischen Büro für Tourimus & Convention (NBTC) sowie Visit Flevoland

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