Beim Theatertreffen hat die von Anna Viebrock gestaltete Bühne einen angemessenen Platz im Hangar 5 des Flughafens Tempelhof gefunden. Dort ist die passende Atmosphäre für diese geheimnisvolle „Dauerkolonie“, in der 15 Personen Unterschlupf gefunden haben.
Vielleicht sind diese Menschen auch zwangsweise dorthin gebracht worden. Ihre Möbel hatten sie offenbar mitnehmen dürfen. Einrichtungsgegenstände aus den 50er bis 70er Jahren sind in einem riesigen Raum mit verblasster, großblumiger Tapete verteilt. An den meisten klebt ein gelber Zettel mit der Aufschrift: verkauft, und sie werden während der Vorstellung nach und nach weggetragen. Vom Dach der Kolonie ist immer wieder durchdringendes Rabenkrächzen zu hören.
„Eine Vergangenheitssucherin“ (Silvia Fenz) nimmt tränenreichen Abschied von einem Nachtschränkchen, das von ihrer Familie während der Nazizeit aus jüdischem Besitz erworben wurde. „Ein besorgter Mann am Telefon“ (Ueli Jäggi), der sein Vermögen verzockt und daraufhin seine ganze Familie erschlagen hat, um ihr Armut und Schande zu ersparen, erläutert die Logik seines Handelns und regt sich darüber auf, dass er in der Presse so negativ dargestellt wird.
Vor dem Sparkassenschalter im Hintergrund kniet ein Mann schweigend vor einem Betschemel. „Eine Nagelstudioinhaberin“ (Katja Holm) zieht einige Register bei der Bitte um einen Kredit für ihr Unternehmen. Bettina Stucky als „Eine Konsumsucherin“ braucht dringend Geld für Designerklamotten und verdreht in der für sie typischen Weise ihre Gliedmaßen, als sei sie sich selbst unendlich peinlich, erfinde aber gerade ganz bezaubernde tänzerische Positionen.
Der Sparkassenangestellte (Bernhard Landau) weist ungerührt alle Bitten um Darlehen zurück mit der Begründung, der Tresor gehe nicht auf. Der Vertreter des Geldinstituts hat wenig zu tun, macht jedoch einen wichtigen und unentbehrlichen Eindruck. Ab und zu fordert er die Menschen zur Geldabgabe auf. Geld gehört auf die Bank, d.h. es gehört eigentlich der Bank. Der Sparkassenangestellte weiß sehr wohl, was sich gehört. Er rezitiert flüssig den kategorischen Imperativ von Kant. Außerdem sorgt er dafür, dass auch die nicht vergessen werden, die in der Dauerkolonie nicht vertreten sind, die Armen, die kein Geld hatten, das verschwinden konnte. Da sie nichts beitragen können, sollten sie sich an den für sie entwickelten Speiseplan halten, der durch Einkauf der Zutatenbeim Grossisten besonders kostengünstig ist.
Das Leben in der Kolonie verläuft ruhig. Wohin es die dort Eingeschlossenen treibt, ist nicht abzusehen. Selbstverständlich wird viel und schön gesungen, Monteverdi, Bach, Beethoven, Schubert oder Schumann, aber auch „Staying alive“ von den Bee Gees. Silvia Fenz säuselt mit erinnerungsschwerer Stimme „Lili Marleen“. Zu ihrem Auftritt im Abseits wird die Vergangenheitssucherin von ihrem Sohn getragen, den sie niemals verstehen konnte, da er schon bei seiner Geburt Franzose war.
Es geschieht viel in dieser knapp zweieinhalbstündigen Vorstellung, und alles entwickelt sich langsam und bedeutungsvoll. Kalauer werden mit dem gleichen Ernst präsentiert wie philosophische Betrachtungen.
Im Hintergrund der Bühne schließt sich an die Halle ein Büro an, einsehbar durch eine Glasscheibe. Dort rezitiert Barbara Nüsse als „Eine Glückssucherin“ einen Text von Seneca, „Von der Kürze des Lebens“. In diesem Büro raucht der „Gesangskontrolleur“ mehrere Zigaretten und fügt dadurch, politisch höchst unkorrekt, seiner wunderschönen Baritonstimme offenkundig überhaupt keinen Schaden zu.
Beim Zuschauen und Zuhören entsteht immer wieder der Eindruck, eigentlich unerwünscht zu sein. Es sieht so aus, als wären die BewohnerInnen der Dauerkolonie in diesem Asyl oder Gefängnis im stillgelegten Flughafen lieber unbeobachtet. Ab und zu tritt die Eine oder der Andere vorn an die Rampe und schaut das Publikum an, erwartungsvoll, mit der unausgesprochenen Frage, ob diese Leute ein Anliegen haben, das ihre Anwesenheit begründen würde, oder ob sie tatsächlich einfach nur neugierig dasitzen, ungeniert glotzen und dauernd lachen.
Da keine Antwort erfolgt, geht das Spiel weiter, die da draußen werden ignoriert. Aber dann beweisen die Krisengeschädigten doch noch, dass sie imstande sind, sich sehen zu lassen. Sie treten zu einer nahezu endlosen Modenschau an, bei der sie ihre abgerissene Kleidung präsentieren, ihre schlabbernden Jogginghosen und schlecht sitzenden Pullover, ihre Badelatschen und pelzgefütterten Hausschuhe, ergänzt durch Accessoires wie Plastiktüten und einen Katzenkorb.
Die AkteurInnen zeigen sich mit fast unbewegter Mimik in den Gesichtern, die immer ein leichtes Staunen ausdrücken und etwas sehr Geheimnisvolles, in dem sich tiefe Weisheit ebenso verbergen könnte wie eingeschränktes Denkvermögen.
Am Ende müssen die KolinistInnen die Halle verlassen und ziehen um in die drei Garagen, die von der Halle aus zugänglich sind. Dort singen sie, auch noch, nachdem der Gesangskontrolleur die Garagentüren geschlossen hat, aus Beethovens „Fidelio“: „O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben.“
„Riesenbutzbach“, eine Produktion der Wiener Festwochen, wurde beim Theatertreffen mit großer Begeisterung vom Publikum bejubelt.