Rapa Nui, Pazifischer Ozean: der einsamste Ort der Welt. So wird die Osterinsel gerne bezeichnet. Die Linienmaschine aus Santiago de Chile braucht für den Flug fast fünf Stunden. Wasser vorhin das Auge reicht. Ich starre aus dem Flugzeug: Was, wenn der Pilot an dem winzigen Eiland vorbeifliegt? Reicht der Treibstoff notfalls für den Weiterflug nach Tahiti? Aber das liegt über 4.000 Kilometer entfernt. Rapa Nui, entferntes Land, so heißt die Osterinsel bei ihren Bewohnern. Oder Te Pito O Te Henua – Nabel der Welt.
163 Quadratkilometer misst die Osterinsel. Das entspricht in etwa der Größe Liechtensteins oder Wuppertals. Mehrmals im Jahr kommt ein Versorgungsschiff und bringt Treibstoff, der die Flugzeuge für ihren Rückflug ebenso „füttern“ muss wie den Inselgenerator zur Stromerzeugung. Alle Dinge des täglichen Lebens werden importiert, jede Brause, jede Arznei, jedes Paar Schuhe.
Der einzige Ort ist Hanga Roa. 4.000 Rapa Nui leben hier. So nennen sich die Insulaner und ihre Sprache. Sie gelten als freundlich und hilfsbereit, stolz, selbstbewusst und in ihren Traditionen verwurzelt. So wie Uri Avaka Teao. „In einer Legende wird davon berichtet, wie unser König Hotu Matua auf die Osterinsel kam“, die 26-jährige Insulanerin arbeitet als Fremdenführerin und ist mit den Überlieferungen ihres Volkes vertraut: „Haomaka, einer seiner Untergebenen, hatte einen Traum. Haomaka sah in seinem Traum Rapa Nui und all die Orte hier.“ Als Haomaka erwacht sei habe er zu seinem König gesagt: „Wir sollten sofort von hier weggehen, denn ein Tsunami wird unsere jetzige Insel zerstören!“ Schließlich soll König Hatu Matua sieben Entdecker ausgeschickt haben, die nach dem fremden Eiland suchen sollten. So fand König Hotu Matua diese Insel“, erzählt Uri voller Leidenschaft, „weil einer seiner Untergebenen einen Traum hatte. Das ist natürlich eine Legende, aber wir glauben daran.“
Es waren die Statuen aus Stein, die Moai, riesige Köpfe mit Ober-körper und ohne Unterleib, die seit 1722 die westliche Welt in Verblüffung versetzten, seit der niederländische Kapitän Jacob Roggeveen die Osterinsel entdeckte. Seitdem kamen Weltumsegler, Missionare, Sklavenhändler, Touristen – und Wissenschaftler wie Claudio Christino. Seit über 30 Jahren lebt und arbeitet der chilenische Archäologe auf der Osterinsel: „Man muss sich das einmal vor Augen führen: Eine kleine Gruppe von Menschen war in der Lage, auf dieser Insel eine großartige Kultur zu entwickeln – inmitten des Pazifik, im Nichts, total isoliert von der Außenwelt. Das ist faszinierend.“
Zusammen fahren wir an die Südküste, wo sich die Tongariki Plattform befindet. Vor uns steht eine Gruppe von 15 Moai. Inselbewohner haben sie mit Christino vor einigen Jahren restauriert und wieder aufgerichtet. Es scheint, als ob die Moai miteinander reden würden, sagt Uri, „wir sprechen auch mit ihnen, vielleicht hören sie auch uns zu. Sie sind wirklich sehr schön, denn man kann sehen, wie kraftvoll die Leute damals waren.“
Bis zu neun Meter ragen die Steinstatuen empor. Über 600 von ihnen gibt es verteilt auf der ganzen Insel, manche wiegen bis zu 270 Tonnen. Zählt man auch die nicht fertiggestellten Moai mit, die noch im Steinbruch von Raru Ranaku liegen – dort, wo sie her-gestellt wurden, dann sind es an die 1.000.
Aufgestellt wurden die Steinköpfe über den sogenannten Ahu: Das sind offene, rechteckige Tempelanlagen, die nicht aus festem Gestein bestehen, sondern aus Geröll, das durch Stützmauern aus grauem Basalt zusammengehalten wird. Manche Ahu sind bis zu 150 Meter breit und wiegen 9.000 Tonnen, wie die von Tongariki. Insofern stellen die Plattformen die Statuen, denen sie als Unterlage dienen, weit in den Schatten. Die meisten befinden sich an der Kü-ste und sind so platziert, dass ihre Statuen landeinwärts das Gebiet der Sippe überblicken. Nicht ein einziger Moai schaut auf das Meer.
Jeder dieser Steinkolosse besteht zur Hälfte aus einem Gesicht mit tiefer Augenhöhle, schmalem Mund, vorgewölbter Stirnpartie und spitzer Nase. Und alle trügen einen sehr ähnlichen Gesichtsausdruck, hat Claudio Christino herausgefunden: „Wenn Sie sich anschauen, wie die Statuen sich im Laufe der Zeit verändert haben, dann werden Sie einen Trend, eine Konvention bemerken. Zuerst gab es menschenähnliche, das heißt naturalistische, menschengroße Figuren. Kopf und Körper stehen im Verhältnis 1:1, das heißt, die eine Hälfte der Figur besteht aus dem Kopf, die andere aus einem Körper.“ Christinos Ausgrabungen und wissenschaftlichen Experimente haben wesentlich dazu beigetragen, die Geschichte der Osterinsel zu rekonstruieren: „Im Laufe der Zeit veränderten sich die Moai hin zu länglicheren Formen. Es scheint also, dass die Größe der Moai immer wichtiger wurde.“
Heute liegen an die 400 Moai zurückgelassen im Steinbruch. Buchstäblich wie bestellt und nicht abgeholt. Manche sind noch mit dem Muttergestein verbunden, aus dem sie herausgehauen werden sollten. Teilweise in Schichten übereinander, als wolle man sie wie ein Puzzle aus dem Fels schlagen. So auch der größte Moai, der mit seinen 21 Metern einem modernen fünfstöckigen Wohnhaus entspricht.
Allen Statuen ist gemein, dass sie kurz unterhalb des Bauchnabels enden. Moai haben keine Beine und – so scheint es jedenfalls – kein Geschlecht: „In den traditionellen polynesischen Gesellschaften wird der Status oder die gesellschaftliche Stellung in männicher Linie auf den Erstgeborenen vererbt. Eine Statue, die normalerweise einen göttlichen Ahnen repräsentiert, war deshalb sehr wahrscheinlich eine männliche Figur – auch wenn keine Geschlechtsmerkmale dargestellt sind“, erkärt Christino. Einige Wissenschaftler behaupten, dass die Moai große Brüste hätten, also weibliche Figuren darstellen würden, aber der Archäologe bezweifelt das: „Frauen haben in der polynesischen Gesellschaft keine besondere Macht. Es gab zwar historische Ausnahmen, zum Beispiel die Königin von Tahiti und von Hawaii. Aber hier auf der Osterinsel war das undenkbar. Wir können also davon ausgehen, dass die Statuen keine weiblichen, sondern männliche Körper zeigen.“
Für jeden der etwa ein Dutzend Clans, die auf der Insel lebten, waren die Moai einst das Heiligtum ihrer Dörfer: Darstellungen von Häuptlingen und Kriegern, die über den Tod hinaus Macht und Schutz zu garantieren schienen. Je größer die Figur, desto größer die Macht. Wie man einen sieben Meter großen und tonnenschweren Moai transportieren konnte, das blieb lange Zeit im Dunkeln. „Sie bauten richtige Straßen“, hat berichtet Christino, „wir fanden fantastische Straßen entlang der Küstenlinie. Und jeder Straßenbauingenieur wird Ihnen bestätigen, dass dies außergewöhnliches Wissen voraussetzt. Die Rapa Nui wussten genau, was sie taten.“
In einer Legenden der Rapa Nui heißt es, dass die Statuen ganz von alleine gegangen seien. Der Zauber einer bösen Hexe habe den toten Steinen Leben eingehaucht und ihnen aufgetragen, an ihre Plätze zu wandern, erzählt mir Uri Avaka Teao: „Natürlich lernen wir auch von den Archäologen, aber andererseits haben auch wir ein Wissen, von unseren Familien, von unseren Leuten. Niemand kann einfach daherkommen und Dir erklären, wie Dein Volk, Deine Familie auf dieser Insel gelebt hat oder aufgewachsen ist. Das weiß nämlich niemand, außer den Leuten, die hier geboren wurden.“
Ungeklärt ist bis heute, warum die riesigen, halb Mensch, halb Gott ähnlichen Wesen gebaut wurden. Warum wider alle Vernunft immer größere Monumentalfiguren entstanden. Und ob die Kolosse für religiöse Feste gedacht waren oder als Einschüchterungs- und Machtinstrument? „Einige Leute sagen, das hatte religiöse Gründe, andere sind der Meinung aus Ahnenverehrung.“ Mit Sicherheit aber stellten die Moai hochrangige Vorfahren dar, so Christino: „Aber wir wissen es nicht genau, denn das, was hier passierte, hat es nirgendwo auf der Welt gegeben. In ganz Polynesien werden Sie nichts Ähnliches finden. Der Bau der Statuen war nur möglich, weil es eine Sozialstruktur gab, mit welcher die Masse des Volkes gezwungen wurde, so etwas zu bauen und die Götter zu ehren.“ Bis heute rätseln die Wissenschaftler, was die Vorfahren der heutigen Insulaner dazu veranlasst haben mag, die Kolosse wieder umzuwerfen. Kapitän Jacob Roggeveen, der 1722 die Osterinsel als erster Europäer entdeckte, sah noch alle Moai auf ihren Plattformen stehen. Aber James Cook, der 50 Jahre später auf seiner Expeditionsreise Rapa Nui besuchte, sah die Statuen am Boden liegen. „Meine Vorfahren waren davon besessen, diese Statuen zu bauen“, lautet die verblüffende Erklärung, von der Uri überzeugt ist. „Ich meine, diese Statuen als Zeichen ihres Ehrgeizes zu schaffen, nur um den anderen Stämmen zu beweisen, wie mächtig sie waren. Und genauso besessen haben sie die Moai wieder zerstört.“