Eigentlich sollte es wenig Diskussionsbedarf geben zwischen den Tarifparteien, der Deutschen Orchestervereinigung (DVO) als Gewerkschaft und dem Deutschen Bühnenverein (DBV) als Vertreter der Kommunen und Länder. Der Tarifvertrag für Kulturorchester (TVK), der seit 1971 besteht, besagt, dass die Gehälter der Musiker an die Tarifentwicklung im Öffentlichen Dienst »sinngemäß« angepasst werden müssen. 100 Orchester mit etwa 7 500 Musikern sind gegenwärtig von der Klausel betroffen. Was klar scheint, ist aber alter Streitpunkt. Statt der Übernahme eins zu eins wollte der DBV Abstriche. Die Gewerkschaft klagte 1995 beim Bundesarbeitsgericht und bekam recht. 2009 kündigte der DBV den Vertrag. Nach zähen Verhandlungen, die von Warnstreiks der Orchester begleitet wurden, vereinbarten die Parteien im Oktober 2009 einen neuen Tarifvertrag, der am 1. Januar 2010 formell in Kraft trat.
Obwohl mit dem DBV »kein ewiger Bund zu flechten« ist, machte die DOV einen Fehler nach dem anderen. Trotz der Sprengkraft der Formel »sinngemäß« ließ sie sich erneut darauf ein – eine Falle. Die Verhandlungen über einen konkreten Vergütungstarif scheiterten erneut. Die Führung der DOV mit dem Vorsitzenden Hartmut Karmeier und dem Geschäftsführer Gerald Mertens verließ sich darauf, beim Arbeitsgericht wieder recht zu bekommen. Diesmal wies das Bundesarbeitsgericht die Klage im September 2013 ab. Es werde, so die Kammer, keinen Vertrag vorschreiben. Die Parteien müssten sich einigen. Drei Jahre waren vergangen.
Inzwischen waren die Tarife im Öffentlichen Dienst wiederholt erhöht worden, aber die Orchester bekamen nichts. Der DBV gab an die Orchesterleitungen Empfehlungen, um wie viel sie die Gehälter ohne Risiko erhöhen könnten. Den Trägern stand es frei, zu zahlen oder nicht. Im Jahre 2010 zahlte die Hälfte von ihnen höhere Gehälter, 2011 ein Drittel. Nach dem Urteil bequemten sich die Partner, endlich zu verhandeln. Am 8. November 2013 vereinbarten sie in einem »Eckpunktepapier« eine »mögliche Tarifeinigung«, die allerdings geheim gehalten wurde. Zunächst ließ der DBV die Vereinbarung platzen, indem er Nachforderungen stellte. Nachdem die jungeWelt den Skandal öffentlich gemacht hatte, einigten sich die Parteien, den Vertrag im November in Kraft zu setzen. Die Vergütungen stiegen um 1,18 Prozent und galten bis zum Februar 2014.
Nun klafft zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Oktober 2013 eine große Lücke, da in den meisten Fällen keine höheren Gehälter gezahlt worden waren. Nachzuzahlen wären, nach Berechnungen der DOV, rund zwei Monatsgehälter. Da der Arbeitgeberverband DBV dies nicht will, schloss die DOV einen »Kompromiss«: Der »Arbeitgeber« muss eine Einmalzahlung in Höhe eines Monatsgehalts leisten. Das zweite wurde ohne Kampfmaßnahmen geopfert. Wer mehr will, muss nachweisen, dass ihm »eine höhere Nachzahlung im Aussicht gestellt« wurde. Das aber hatte die Gewerkschaft nicht gesichert. Die meisten Musiker werden ein Monatsgehalt erhalten. Das ist die halbe Tariferhöhung.
Dabei verhalten sich die Arbeitgeber noch nicht einmal vertragswidrig. Der Kulturbürgermeister von Dresden, Ralf Lunau (parteilos) erklärte: »Die Orchester werden genau das kriegen, was im Tarifvertrag steht. Ich erfülle genau den Tarifvertrag. Die Unterschrift der DOV ist ja im vollen Bewusstsein ihrer Wirkungen zustanden gekommen. Eine Zusage für höhere Nachzahlungen hat es nicht gegeben.« Stimmt. Im Paragraph 6 steht eine monatliche Vergütung. Mehr nicht. Einen Widerspruch konnten zum Beispiel die Musiker der Dresdner Philharmonie nicht einlegen, weil sie keine solche Zusage erhalten hatten. Ihr Intendant Anselm Rose ist schließlich Mitglied des Tarifausschusses des DBV. Die Sächsische Staatskapelle Dresden hatte mit Einverständnis des Staatsministeriums Rücklagen für vollständige Nachzahlungen gebildet. Das Ministerium befand jedoch, dass nur ein Gehalt nachgezahlt werden müsse. »Ich bin nicht der, der es verhindert«, sagt der Orchesterdirektor Jan Nast. Ist die Rücklage indirekt als Zusage zu werten?
Von 100 Orchestern wurden neun für strittig erklärt. Nun müssen DOV und DBV die Fälle klären. Wenn es keine Einigung gibt, darf das betreffende Orchester ab 1. September streiken, aber dann steht es ziemlich allein da. Die nicht widersprochen haben, haben ja Friedenspflicht. Dass es auch anders geht, bewiesen das Bayrische Staatsorchester München und das Staatsorchester Stuttgart. Die haben seit 2010 jede Tariferhöhung gezahlt, weil ihren übergeordneten Ministerien der Betriebsfrieden lieber ist als Stress. Eine Ausnahme macht auch das Orchester der Staatsoperette Dresden. Die Mitarbeiter der Staatsoperette verzichten seit 2009 auf 8 Prozent ihres Bruttogehalts, um sich mit einem Eigenbetrag von 13 Millionen Euro an den Baukosten eines neuen Theaters zu beteiligen. Hier hat die Stadt von Anfang an alle Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst übernommen.
Wie hoch die Summe der Nachzahlungen ist und wie hoch die Summe, die nicht ausgezahlt wird, kann der DBV laut Auskunft seiner Pressereferentin Vera Scory-Engels nicht sagen. Beim Bühnenverein nichts Neues. Auch die DOV hat keine Übersicht, weil der Aufwand zu hoch sei.
Das Fazit: Die Orchestermusiker haben um einen neuen Tarifvertrag gekämpft und bekommen haben sie die Hälfte. Und niemand will ihnen sagen, um wie viel sie betrogen worden sind. Das Durchschnittsgehalt eines Orchestermusikers liegt laut Auskunft von DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens zwischen 2 100 und 4 400 Euro, also bei angenommenen 3 250 Euro brutto im Monat. Wenn von 7 500 Musikern etwa 5 900 betroffen sind, sparen die Träger 19,2 Millionen Euro plus Arbeitgeberanteile. Bei rund 8 Prozent Tariferhöhung im Öffentlichen Dienst in vier Jahren bedeutet die Hälfte einen deutlichen Reallohnverlust. Dabei darf man nicht vergessen, dass viele Orchester mit einem Haustarifvertrag unter dem Tarif bleiben und andere wie die Berliner Symphoniker überhaupt nicht nach Tarif zahlen können, weil sie aus der öffentlichen Subventionierung gestrichen wurden. Die reale Verarmung qualifizierter Musiker ist also noch schlimmer.
Was folgt aus der Niederlage der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder? »Am Ende muss die Tarifkommission das solidarisch tragen«, sagt Mertens. Wer soll mit wem solidarisch sein? Ein Monatsgehalt für die Solidarität mit dem Vorstand, der einen faulen Kompromiss gemacht hat? Liegt der Grund darin, dass sich die DOV mehr als Berufsverband versteht, denn als Gewerkschaft? Fehlt der DOV die Kampfkraft? Tatsache ist: der Bühnenverein diktiert die Bedingungen. Sein Geschäftsführender Direktor Rolf Bolwin lässt es sich angelegen sein, die Lohndrückerei ideologisch zu untermauern. Den Orchesterintendanten erklärte er auf dem Deutschen Orchestertag, die öffentliche Finanzierung der Kultur in Deutschland sei ein glänzender Stern. Weil die Förderung so großartig sei, dürfe man sie nicht schlechtreden. Klagen in den eigenen Reihen verbreiteten nur ein schlechtes Image.
Was wäre wenn? Wenn es so schwer ist, die Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst in die Orchestergehälter umzusetzen, wäre es nicht zweckmäßig, den Orchestertarif direkt durch die Gewerkschaft ver.di zu verhandeln? »Sinngemäß« gäbe es dann nicht mehr, sondern den gleichen Prozentsatz für alle. Und der DBV hätte sich einem stärkeren Gegner zu stellen.
Die Nachzahlung wird am 31. Mai fällig. Bis dahin ist noch manches möglich.