„1977, das Jahr, in dem wir „nach drüben sind“, wie es hieß, als gehe man in Nachbars Garten. Ich war zwölf, schon Thälmannpionier, obwohl ich das Halstuch nach Möglichkeit nicht trug. Und fast schon ein Teenager. Das ist wichtig. Warum? Ich bekam mit, was vor sich ging, weil in unserem Haus offen gesprochen wurde. Über Politik und das, was um uns herum geschah. Dass ich draußen besser schwieg, brauchte man mir nicht zu sagen. Im Westen dann Sprachlosigkeit. Keine Zeit zu reden. Wir mußten uns zurechtfinden in dem neuen Staat, während die Familie fast zerbrach.“
Susanne Schädlich gelingt eine sachliche Beschreibung höchst emotionaler Geschehnisse, wagt auszusprechen, was den „endlich“ Ausgereisten damals schwerfiel, dass Orientierung und Ankommen im Westen Deutschlands nicht reibungslos funktionierten. Die Vertreibung aus dem Märchenwald mit seinen grauen Schergen führte nicht zwangsläufig ins Paradies. Es fehlte die Nähe und Vertrautheit, die verlotterte Unbekümmertheit bei gleichzeitiger Totalüberwachung, die intellektuelle Gespanntheit, das Konspirative und Anregende, die Schriftstellertreffen und partyesken Besuche”¦
Einem Lehrbuch gleich kann an Schädlichs herausragender Monografie der psychische Zustand der „distanzierten Generation“ abgelesen werden (wie die zwischen 1960 und 65 in der DDR Geborenen Aufmüpfigen in der Subkulturforschung bezeichnet werden). Literarisch gebührt Schädlich Dank für die neue Form der autobiografischen Kollage, die sie aus Interviews mit den eigenen Eltern, Erinnerungsnotizen, prosaischen Reflektionen und Akten der BStU zusammensetzt, behutsam und direkt. Schonungslos, sich und uns gegenüber. So frisch und brutal kann Geschichte geschrieben werden, danke!
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Susanne Schädlich, Immer wieder Dezember, Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich; 240 Seiten, Droemer Verlag, 2009, 16,95 €