Der zeichnende Junge wird die Insel der Edlen, auf der er aufgewachsen ist, verlassen. Er wird dem kranken Bruder und der Mutter, die keine Arbeit mehr als Schmiedin findet, den Rücken kehren. Der Bruder ist irre geworden. Die Insel der Edlen hat sich auf das Recycling von elektronischen Abfällen konzentriert, seitdem ist kein Reisanbau mehr möglich und niemand benötigt Hacken und Forken, Schaufeln, Pflugscharen und sonstiges Ackergerät.
Beschreibt der Erzähler in der dritten Geschichte des Bändchens die Situation, die sich in allen drei Novellen ähnlich darstellt. Die Figuren leben oder lebten auf einer Insel, deren arme Bewohner unseren Elektro-Schrott der 1. Welt auseinanderpflücken. Mit verheerenden Auswirkungen. Wir lesen von Vergiftungen, Persönlichkeitsstörungen, Zinn, Blei, Beryllium, Kupfer, Kadmium, Quecksilber. Von Arbeitern aus Zinkspatlagerstätten, den Eisenspatwerken, deren von Silizium zerstörten Lungen platzen und deren Harnleiter und Blase von Kalzium verstopft sind; von Arbeitern aus Kristallglasfabriken, die unter Sehstörungen leiden oder erblindet sind”¦
Das ist schwer zu ertragen und tatsächlich steckt in kaum einem zeitgenössischen literarischen Text so viel Anprangerung der Schattenseiten der Globalisierung, der Wertlosigkeit des einzelnen Lebens. Ob der greisenhafte kleine Trommler, der Bogart vom Wasserreservoir mit seiner schlittschuhlaufenden Tochter oder der kranke Bruder, sie und ihre Familien sind Opfer unserer Welt, gepaart mit den Ausdünstungen eines totalitären Systems, dass sich dem Kapital andiente, als ihm die Ideale ausgingen. Der Autor Dai Sijie, geboren 1954 in der Provinz Fujian, wurde selbst Mitte der 70er im Zuge der kulturellen Umerziehung vier Jahre lang in ein chinesisches Bergdorf verschickt. Nach Maos Tod studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. Sein Debüt-Roman »Balzac und die kleine chinesische Schneiderin« handelt von der Zeit der Umerziehung und wurde ein großer internationaler Erfolg. Mit dem kleinen Trommler ist Sijie in der heutigen Zeit angekommen, die mit neuen, anderen Schrecken aufwartet, und doch in jedem Grauen eine Knospe verbirgt, die nur Literatur so wunderbar zu treiben vermag.
Fazit: Erschütternd, faszinierend, bildstark und unvergesslich!
Dai Sijie, Der kleine Trommler, Drei chinesische Geschichten, Aus dem Französischen von Eike Findeisen, 151 S., Piper Verlag München Zürich, 2012, 16,99 €