Deutschlands Umgang mit der Coronavirus-Pandemie – Das Recht auf Leben und seine Folgerungen

Polizeiabsperrung. Quelle: Pixabay, Foto: Redaktion Stadtgeschehen Lübeck

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Auch bei der Coronavirus-Pandemie geht es um das Recht auf Leben. Da braucht es tatsächlich Einheit und Geschlossenheit. Und wer das Recht auf Leben innerlich bejaht, der nimmt auch gegen Gewalt und Krieg Stellung und für eine Verständigung in den internationalen Beziehungen.

Im Deutschen Historischen Museum in Berlin ist ein rund 70 X 50 Zentimeter großes Plakat zu sehen, das nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges überall in Deutschland zu sehen war. Den Text des Plakates bilden die Datumsangabe «1. August 1914» – den Tag des deutschen Kriegseintritts – und der Aufruf des deutschen Kaisers Wilhelm II. an das deutsche Volk: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche».

Dieser Satz gilt als das bekannteste Zitat des deutschen Kaisers. Millionenfach fand es Verbreitung in Zeitungsmeldungen, auf Plakaten und Postkarten. Und heute (und auch schon damals) gelten (und galten) der Aufruf und das Plakat «gesellschaftskritischen» Kreisen als Inbegriff deutscher Kriegspropaganda eines autoritär regierten Staates.

Tatsächlicher Hintergrund des Plakates war der sogenannte «Burgfrieden» zwischen kaisertreuen politischen Parteien im Reichstag und der dem Kaiser bis dahin äußerst kritisch gegenüber stehenden SPD-Fraktion, die nun aber mehrheitlich bei Kriegsbeginn von ihrer bisherigen Linie abgewichen war und den Kriegskrediten zugestimmt hatte. Das Plakat verklärt diesen «Burgfrieden»: Unter dem von Engeln gehaltenen Porträt Wilhelms II. sammelt sich das deutsche Volk, das seinen Monarchen huldigt. In der Menge sind Frauen, Kinder, Studenten, Offiziere, Geistliche und Landwirte zu erkennen – und auch ein paar Arbeiter. Die Wappen der 25 Bundesstaaten versinnbildlichen die politische Einheit des Kaiserreichs.

«Kritische» Zeitgenossen

Manch ein «kritischer» Zeitgenosse mag an dieses Plakat gedacht haben, als er die gegenwärtigen politischen Aufrufe in Deutschland und anderen Staaten gelesen oder gehört hatte, die in Anbetracht der Coronavirus-Pandemie zur Einheit und Geschlossenheit mahnen und – fast wie in Kriegszeiten – viele Einschränkungen der persönlichen Freiheit verordnen.

Ein Beispiel für diese «kritischen» Zeitgenossen ist ein Brief des Herausgebers einer sich als kritisch verstehenden deutschen Internetseite an ihre Autorinnen und Autoren. Da ist zum Beispiel zu lesen: «Wenn, und das scheint aktuell nach wie vor denkbar, der Notstand die gesamte Republik ereilt, und womöglich sogar die Bundeswehr zum Einsatz im Inland kommt, stellen sich aus unserer Sicht und nach einem ersten Brainstorming eine Menge Fragen, die wir als Impuls für Artikel an Euch weitergeben möchten.» Wichtige Arbeitsthemen seien dabei unter anderem: «Welche Entscheidungen werden aktuell an der Öffentlichkeit vorbei getroffen – oder kurz gesagt: Welche Schweinereien laufen, während wir gerade woanders hinschauen?» Oder: «In der Krise wird nun durchgesetzt, was schon immer mal gemacht/probiert werden sollte, aber bisher nicht akzeptiert wurde (Afghanistan-Einsatz wurde verlängert, Verpflichtung der Schulkinder zum E-Learning, Bargeldabschaffung)». Oder: «Die Gelbwesten-Proteste liefen/laufen weiter und konnten nicht zerstreut werden – was passiert nun? Mit dem Notstand werden alle Proteste gegen Sozialabbau illegal – ist das beabsichtigt?» Oder: «Die Lügen der Pharma-Industrie – Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses nach Schweinegrippe». Oder: «Die Definition von Pandemie (bei WHO wurde die Definition geändert anlässlich der Schweinegrippe)». Oder: «Milliardenhilfsprogramm durch Bundesfinanzministerium: Umverteilungsprogramm von Unten nach Oben?» Oder: «DAX-Beeinflussung und wirtschaftliche Folgen – handelt es sich um einen Wirtschaftskrieg unter ‹falscher Flagge›?» Oder: «Glaubwürdigkeit des Chefvirologen der Charité: Er hat den Test entwickelt, der jetzt weltweit Abermillionen einspielt, aber nur einen ‹Marker› und keine Gefährlichkeit misst – Interessenkonflikt wird weltweit nicht thematisiert, er ist sogar ‹einflussreichster Arzt Deutschlands› und berät die Kanzlerin». Oder: «Es gab im Dezember 2019, also kurz vor Beginn der ‹Pandemie›, eine Übung namens Event 201 unter Beteiligung der chinesischen Gesundheitsbehörde, der WHO, der Gates-Stiftung und des CIA. Kein Gerücht, sondern kann man auf deren eigener Website nachlesen: http://www.centerforhealthsecurity.org/event201/scenario.html. Da wurde ein globaler Corona-Ausbruch simuliert, der in der Übung zwar in Brasilien beginnen sollte, sich aber ansonsten bis ins Detail so anhört, wie das, was wir gerade real erleben.»

Die erwähnte Internetseite hat in den vergangenen Jahren viele wertvolle «kritische» Analysen und Stellungnahmen zu vielen politischen Fragen veröffentlicht. Besonders dabei hervorzuheben war und ist der Einsatz aller Beteiligten gegen die nun schon Jahre währende Kriegspropaganda und Kriegspolitik der Nato-Staaten. Darüber kann man sich nur freuen. Und auch die nun gestellten Fragen und formulierten Themen sind nicht illegitim.

Aber was stärkt die Menschen?

Aber stärkt man hierdurch in Anbetracht der Coronavirus-Pandemie die Menschen? Oder anders formuliert: Ist eine Schlagzeile wie die im Leitartikel der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 14. März 2020 – «Jetzt kommt es auf uns alle an» – eine zu kritisierende Manipulation der Bürgerinnen und Bürger – fast schon wie beim Aufruf von Kaiser Wilhelm II. –, oder bringt eine solche Schlagzeile nicht doch zum Ausdruck, worum es augenblicklich tatsächlich geht: dass jeder aufgerufen ist, auch das seine dafür zu tun, die Pandemie einzudämmen und den Schaden so gering wie möglich zu halten. Und dass es nicht in erster Linie darum geht, alles mögliche zu «problematisieren» und damit vermutlich sowieso schon vorhandenes Misstrauen zu verstärken, sondern darum, alles zu tun für den Schutz des Lebens – also für die Basis aller anderen Grund- und Menschenrechte.

Wertehaltungen

Das wird nicht ohne Werthaltungen gehen. Martin Booms, geschäftsführender Direktor der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn, hat dies in einem Beitrag für die «Neue Zürcher Zeitung» vom 14. März 2020 deutlich gemacht, und es lohnt sich, über dessen Überlegungen nachzudenken.

Da ist zu lesen: «Die Corona-Epidemie könnte sich zur schwersten globalen Krise ausweiten, die die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat. Dies liegt aber nicht nur – und noch nicht einmal zuerst – an der medizinisch-biologischen Dimension des Geschehens, so ernst diese auch zweifellos zu bewerten ist. […] Die viel größere und nachhaltigere Gefahr geht aus von den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und nicht zuletzt moralischen Sekundäreffekten des Geschehens, die sich im schlimmsten Fall von dem Fortgang der eigentlichen Seuche entkoppeln könnten. […] Denn die Corona-Epidemie trifft – gerade in den westlich-liberalen Gesellschaften – auf einen moralisch und politisch schwer vorerkrankten Patienten, der bereits vorher an allen Symptomen litt, die die gegenwärtige Epidemie nun exponentiell hervortreibt: einem hohen Maß an Orientierungslosigkeit und Verunsicherung, gepaart mit Vertrauensverlust gegenüber etablierten politischen und wirtschaftlichen Strukturen; […] einer Erosion des Konzepts objektiver Wahrheit, die noch den letzten festen Boden allgemein anerkannter Tatsachen ins Wanken gebracht hat.»

Oder: «Werden die wirtschaftlich soliden Staaten bereit sein, volkswirtschaftlich gefährdeten Ländern mit Hilfspaketen unter die Arme zu greifen? Werden Menschen aus Verantwortungssinn ihre persönliche Freiheitsentfaltung einschränken, um einen Beitrag zur Verminderung des Ansteckungsrisikos für Risikogruppen zu leisten?»

Oder: «Gelingt es angesichts der gesundheitlichen Krise, sich auf die längst brüchig gewordenen ideellen Fundamente des westlich-liberalen Verständnisses zurückzubesinnen, liegt am Ende in dem biologischen Problem eine gesellschaftliche Chance. Dann nämlich könnte ausgerechnet die Corona-Krise jene politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte eindämmen, die in jüngster Zeit nicht den Geist des Humanismus und der Solidarität, sondern denjenigen der Spaltung, des Ausschlusses und der Priorisierung falsch verstandener Eigeninteressen vorangetrieben haben.»

Das Recht auf Leben und seine Folgerungen

Die Fragen und Themen, die «kritische» Denker aufwerfen, sind nicht unberechtigt. Auch ihnen soll nachgegangen werden. Es ist aber auch jeden Tag neu zu überlegen, in welcher Welt wir leben, vor welchen konkreten Aufgaben wir stehen und welche Fragen und Antworten die Menschen tatsächlich stärken. Manch ein «gesellschaftskritischer» Intellektueller neigt dazu, seiner «Kritik» und seinen «Analysen» und «Theorien» mehr Gewicht zu geben als dem tatsächlichen Wohl seiner Mitmenschen. Das muss nicht aus bösem Willen passieren. Karl Marx und die kommunistische Bewegung waren ein herausragendes Beispiel dafür. Intellektuelle in dieser Tradition tun gut daran, sich auch immer wieder selbst kritisch zu hinterfragen. Was dem Gemeinwohl dient, zeigt sich immer erst an den Resultaten. Die Coronavirus-Pandemie ist ein reales Problem, die durch das Virus Erkrankten und die an der Erkrankung Gestorbenen gibt es tatsächlich. Die Frage, wie hier Linderung und Abhilfe zu schaffen ist, hat deshalb ein Recht auf Vorrang.

Wer dies und das Recht auf Leben, nicht als eigenes Vorrecht, sondern als das grundlegende Recht aller Menschen, verinnerlicht hat, der wird auch entschlossen gegen jedes Unrecht, gegen Gewalt und Krieg, gegen die Ausbeutung von Menschen durch Menschen Stellung nehmen. Mögen diese Geißeln der Menschheit auch in neuen Formen des jakobinischen «Tugendterrors», als «Sanktionen» gegen Staaten und Völker, als Variationen der «humanitären Interventionen» oder in Form von Kriegsmanövern wie «Defender Europe 2020» auftreten.

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Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Er lebt in der Schweizerischen Eidgenossenschaft und schätzt die direkte Demokratie und politische Kultur in der Schweiz sehr.