Dennoch – Ihr Thema untersucht ein wichtiges Detail: Wie weit erkannte die politische Führung der SED – gleich Führung der DDR – die Krise, wie analysierte und verarbeitete sie diese, welche Maßnahmen ergriff sie, welche Machtmittel, welchen Rückhalt im Volk und in der Partei hatte sie?
Thomas Grimm führt seit Jahren Interviews mit Zeitzeugen, bevorzugt mit Leuten mit Insiderwissen aus politischen und ökonomischen Strukturen der DDR. Diese bieten reichhaltiges Material für den Dokumentarfilm. Verwendet werden Aussagen von Mitgliedern des Politbüros: Egon Krenz, Günter Schabowski, Gerhard Schürer, Harry Tisch, von Sekretären der Bezirksleitungen Hans Modrow, Helmut Müller, Heinz Vietze, vom Leiter der Abteilung Sicherheit des ZK, Wolfgang Herger, vom Chef der Hauptverwaltung Aufklärung, Werner Großmann, vom Kombinats-Generaldirektor Heiner Rubarth, vom Leibarzt, vom Personenschützer und schließlich vom Vernehmer Erich Honeckers. Nicht vor die Kamera wollten Heinz Keßler, der Verteidigungsminister, der General Fritz Streletz und Wolfgang Herger. Zur Kompensation bot Herger sein Tagebuch an – eine Überraschung –, aus dem Grimm ausführlich zitiert. Interessant ist auch einer, der nichts sagt, obwohl er im Hintergrund agiert: Gregor Gysi. Strapaziertes Klischee: der muskulöse und behaarte rechte Arm, der Wolfgang Hergers Tagebuch schreibt.
Dem Zuschauer werden abermals die qualvollen Monate der schwelenden Krise der DDR im Sommer und Herbst 1989 mit der massenhaften Flucht von DDR-Bürgern über Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei und mit dem Aufbegehren der Bürger in Leipzig, Dresden und Berlin gegen die Verweigerung der Reisefreiheit, der Rede-, Presse- und Demonstrationsfreiheit vorgeführt. Peinlich zu sehen, wie die Riege mächtiger Männer, das Politbüro, unfähig ist, die Widersprüche und die Krise wahrzunehmen und verantwortungsbewusst zu reagieren. Eine kleine Gruppe von Verschwörern sieht den Ausweg in der Absetzung des Generalsekretärs Erich Honecker. Doch statt zu handeln, warten sie ab, bis der 40. Jahrestag der DDR vorbei ist. Kostbare Zeit geht verloren. Vielleicht hätte das Volk der DDR das als Zeichen eines Neuanfangs angenommen.
Klar wird aus den Auskünften von Krenz, Schabowski, Schürer, Modrow und anderen, dass es für die Führer einer herrschenden kommunistischen Partei nie vorstellbar gewesen ist, die Arbeiterklasse, die Partei und das Volk könnten ihnen nicht mehr folgen – das Volk, dessen Interessen zu dienen sie sich ernsthaft vorgenommen hatten. In ihrer Vorstellung konnte es keine Krise geben, weil sie sich des Vertrauens des Volkes sicher glaubten; also gab es auch kein Krisenmanagement. (Sage keiner, das wäre heute anders. Man prognostiziert Wachstum und stürzt ab in die Überproduktionskrise. Man organisiert Spekulationsblasen, aber rechnet nicht mit ihrem Platzen. Man rechnet mit fünf Millionen Arbeitslosen, verspricht jedoch Vollbeschäftigung.) Krenz und Genossen bekennen sich zu ihrem Unvermögen. Dem Zuschauer wird klar, dass diese »Führung« die DDR nicht retten konnte. Die »Verschwörer« hatten nicht ansatzweise ein Programm für eine Umgestaltung wie etwa 1956 Wolfgang Harich und Walter Janka. Diese Männer waren einfach unfähig. In diesem Punkt trägt der Film im 20. Jahr des Scheiterns der DDR zur Wahrheitsfindung bei – gutes Material für Wissenschaft und Politik – wobei einzurechnen ist, dass der Gang der Geschichte vielfältiger ist, als ein Film zeigen kann.
Völlig offen bleibt die mentale Beschaffenheit, das Denken und Fühlen von Menschen, die Irrtümer, Widersprüche und Krisen nicht für möglich halten. Die sich nicht vorstellen können, dass das Volk ihnen nicht (mehr) vertraut. Wie entsteht solches Denken bei denen, die einst für das Volk ein besseres Leben schaffen wollten und um sein Vertrauen geworben hatten? Wie konnten sie an diese Bindung glauben, ohne sich ihrer ständig zu vergewissern?
Lachen und weinen könnte man über Schabowskis »Vermutung«, er könnte mit seiner vorschnellen Verlautbarung zur »unverzüglichen« Öffnung der Grenze am Abend des 9. November einen Fehler gemacht haben. Das Blatt mit dem offiziellen Termin 10. November hielt er in seiner Hand. Wenn der Handwerker pfuscht, leistet er Ersatz, wenn der Politiker pfuscht, ist es ein bedauerlicher Irrtum, an dem andere schuld sind, die ihn falsch informiert haben. Dennoch weiss Schabowski sich mit »Enthüllungen« zu empfehlen: Gorbatschow habe eine eigene Mannschaft in petto gehabt, um Honecker zu stürzen. Der KGB habe 1987 in Dresden mit Modrow Verhandlungen geführt. Diese (vom »Spiegel« verbreitete) Legende wurde indessen vom HVA-Chef Werner Großmann in der Tageszeitung »junge Welt« dementiert. Er selbst habe den KGB-Chef Wladimir Krjutschkow nach Dresden begleitet. Dieser habe weder mit Modrow noch mit Manfred von Ardenne konspiriert. Schabowski versuche, sich interessant zu machen.
Deutlich wird der Verrat Gorbatschows an der DDR, der den besten Bemühungen um ihre Rettung keine Chance ließ. Deshalb dürfte sich Großmann nicht geirrt haben, als er Berichten seiner Gewährsleute glaubte, die politische Klasse der BRD sei der Meinung, die DDR werde weiter existieren. Solange die UdSSR die DDR schützte, zweifelten die westlichen Politiker nicht am Bestand des Landes. Erst als Gorbatschow mit Bonn geheim über die deutsche Vereinigung verhandelte, gab es für die DDR keine Garantie mehr.
Die Verantwortung für das Ende des Politbüros wird klar. Jedoch werden seine Mitglieder auch im Film nicht gefordert, ihr Versagen zu erklären. »Wir haben es nicht gesehen«, ist zu wenig. Das Ende wird durch den Rücktritt des ZK im Dezember 1989 besiegelt. Krenz: »Die Partei fiel zusammen wie ein Kartenhaus«.
Wo der Film die Rolle des Politbüros und den Weg zu seinem Ende analysiert, umgeht er einen Fakt, der nicht neu ist, aber für den friedlichen Verlauf der »Revolution» wesentlich war, und der im Agieren der für Sicherheit zuständigen Mitglieder des Politbüros keine geringere Rolle spielte als Honeckers Absetzung. Zu reden wäre von Krenz‘ und Hergers Initiative für den Befehl vom 8. Oktober 1989 an die Partei- und Sicherheitsorgane, gegen politische Demonstrationen keine Gewalt (mehr) anzuwenden. Die Polizeieinsätze in Dresden und Berlin hatten eine nicht mehr beherrschbare Eskalation befürchten lassen. Am 13. Oktober, als in Leipzig 100.000 Menschen zur Montagsdemonstration erwartet wurden, flog Krenz mit den stellvertretenden Ministern für Inneres, Verteidigung und Staatssicherheit nach Leipzig, um jede Gewaltanwendung zu verhindern. Der Gebrauch von Schußwaffen wurde verboten, sogar mit Honeckers Unterschrift. Mit dem sowjetischen Kommando wurde vereinbart, dass die Truppen die Kasernen nicht verließen, um die Demonstranten nicht zu provozieren. So berichtet es Krenz in seinem Buch »Herbst ´89«. Unerklärlich ist zumindest, dass der Interviewer das nicht hinterfragt.
Historikern, die zu diesem Thema forschen und publizieren, sind diese Fakten bekannt. Sie werden wissentlich ignoriert. In der Ausstellung »Das Jahr 1989« im Deutschen Historischen Museum zum Beispiel wird berichtet, dass die DDR-Bürger zu Zehntausenden auf die Straße gingen und Reise- und Meinungsfreiheit sowie freie Wahlen forderten. Die SED reagierte mit brutalem Einsatz der Sicherheitskräfte. Dann liest man: »Dass die Revolution am Ende friedlich blieb, grenzt an ein Wunder.« Dass eine Staatsmacht bewusst und organisiert auf ihre Machtmittel verzichtet, darf nicht sein. Der Fakt gehört zur historischen Wahrheit des Herbstes 1989 und zur Bewertung der Politiker und ihrer Motive. Leider gehen Grimm und Becker in diesem Punkt nicht über das Niveau der offiziellen Propaganda hinaus. Es fehlt ein Stück Film.
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Das Ende des Politbüros. Dokumentarfilm von Thomas Grimm und Jens Becker, Deutschland 2009, 90 Minuten. Ausstrahlungen bei ARTE am 16. September, 21 Uhr, und im MDR am 18. Oktober, 20.15 Uhr.