Den ersten Antrag stellte die Türkei bereits 1959, um der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) anzugehören und bereits vier Jahre später wurde das Assoziierungsabkommen unterzeichnet. Damals sagte der EWG-Kommissionspräsident Walter Hallstein (CDU): „Die Türkei gehört zu Europa“. Erst 45 Jahre später beschloss der Europäische Rat, die Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Dies war nicht nur ein Anlass, der mit Feuerwerk und Konfetti gefeiert wurde, sondern die Menschen auf der Straße begannen sich gegenseitig zu Europäern zu „erziehen“, indem sie sich bei der kleinsten Ordnungswidrigkeit gegenseitig als „nicht Europa tauglich“ kritisierten. Doch das haben sie schon längst aufgegeben. Nach sechs Jahren, in denen von 35 Verhandlungskapiteln gerade mal ein einziges abgeschlossen werden konnte, ist für die meisten Türken der Traum von Europa verflogen.
Auch wenn Außenminister Davutoglu immer wieder versichert, der EU-Beitritt habe Priorität, sieht sich die Regierung schon längst nach Alternativen um. Anfang Dezember 2010 unterzeichnete sie mit Syrien, Libanon und Jordanien ein Abkommen über politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der erste Schritt zu einer „Levantinischen Union“ einschließlich einer Zoll- und Währungsunion sei damit getan, hieß es. Staatspräsident Abdullah Gül sagte in einem Interview mit dem Sender „Euronews“, dass die Türkei lange Zeit Probleme mit ihren Nachbarn gehabt habe, aber nun auf dem richtigen Weg sei, sich mit ihren Nachbarstaaten nicht nur zu vertragen, sondern auch mit ihnen zusammen zu arbeiten. Auf die Frage, was er über die Mitgliedschaft in der EU denke, antwortete Abdullah Gül: „Selbstverständlich arbeiten wir weiter auf eine Mitgliedschaft hin. Aber seit 2005 stocken die Beitrittsverhandlungen, weil immer wieder ein europäischer Staat ein Veto einlegt und wir wissen nicht, wie es weiter geht. Selbst wenn die Türkei alle Kriterien erfüllen würde, müssen wir immer damit rechnen, dass es wieder ein Veto oder ein Referendum gibt und inzwischen sind wir uns nicht mehr sicher, wie lange das türkische Volk sich das noch gefallen lässt. Vielleicht werden wir es dann so halten wie die Norweger, weil wir unsere Vision verloren haben.“
„Der Rat des Spitzen-Quartetts“
So soll sich die neue Allianz zwischen der Türkei, Jordanien, Libanon und Syrien nennen. Diese vier Staaten gründeten am 3. Dezember das „Levantinische Handels Forum“ in Istanbul oder auch das „Levantinische Quartett“ genannt. Auch wenn Abdullah Gül während des Interviews mit Euronews behauptete, die Türkei habe keinen „Plan B“ als Alternative zum Beitritt in die EU, so hinterlässt die Unterzeichnung von 75 Projekten im Umfang von 1000 Milliarden Euro des Levantinischen Quartetts einen anderen Eindruck. Der Sitz des Rats ist Istanbul und das Management wird aus jeweils einer Delegation der beteiligten Länder bestehen. Unter den geplanten Projekten befindet sich beispielsweise der Ausbau der Autobahn von Mersin nach Basra sowie eine Zugverbindung Mersin-Aleppo-Damascus-Amman-Aqaba. Weiterhin wird eine Schnellboot-Verbindung von Mersin nach Syrien und Mersin-Beirut eingerichtet. Insgesamt soll der Transitverkehr zwischen diesen Ländern erleichtert sowie eine Modernisierung und Integration der Telekommunikation vorgenommen werden. Sehr interessant klingt auch das Vorhaben der Gründung einer Levantinischen Bank. Es würde den Rahmen sprengen, hier alle geplanten Projekte zu nennen. In den Dokumenten des türkischen Rats für Außenhandel (DEIK) nimmt das Gebilde bereits deutlich Gestalt an: neben den vier Gründungsmitgliedern umfasst die neue Union auch Länder wie den Iran, Irak, Kuweit, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, den Jemen, Oman und Bahrain. Mögen diese Vorhaben gegebenenfalls Höhenflüge oder gar Großmachts-Phantasien vermuten lassen, Tatsache ist, dass die neue östliche Mittelmeer-Politik der Türkei stark wirtschaftlich orientiert ist. Ob sie auch islamisch motiviert ist, lässt sich nicht behaupten, höchstens unterstellen.
Sicher ist, dass die türkische Wirtschaft im ersten Halbjahr 2010 um elf Prozent wuchs, während die meisten europäischen Volkswirtschaften stagnieren. So ist die Türkei ständig auf der Suche nach neuen Märkten und diese Suche führt sie in den Nahen Osten, Mittelasien und Nordafrika. Während Kritiker der Regierung Erdogan dieser neuen östlichen Ausrichtung eher skeptisch gegenüber stehen, meinen EU-Diplomaten, dass diese nicht im Widerspruch zur europäischen Perspektive stehen müsse und die Türkei für Europa durch ihre engeren Beziehungen zur arabischen Welt noch mehr an Bedeutung gewinne.
So wie Ministerpräsident Erdogan es entwürdigend findet, dass die EU „uns seit fast 50 Jahren vor ihren Toren warten lässt“, sehen es auch viele türkische Bürger inzwischen. Vor allem jüngere Türken wollen diese Warterei und Demütigungen nicht länger hinnehmen und sind mit der Orientierung ihres Landes nach Osten recht zufrieden. Sie sind der Meinung, dass die Türkei die EU bald nicht mehr brauchen wird. „Aber umso mehr wird die EU uns brauchen“, sagen sie.