Der neue Protest in Tel Aviv

Es war ein fröhliches Ereignis. Dutzende von NGOs, viele von ihnen klein, einige von ihnen etwas größer, jede mit einer anderen Agenda, kamen zusammen, um den sozialen Protest des letzten Jahres wieder aufzunehmen. Aber es war keineswegs eine Fortsetzung des „israelischen Frühlings“ des letzten Jahres.

Der Aufstand des letzten Jahres war ganz ungeplant. Eine junge Frau, Daphni Leef, konnte ihre Miete nicht zahlen und stellte ein kleines Zelt auf den Rothshild-Boulevard, ein fünf- Minuten-Spaziergang vom Rabin-Platz entfernt. Sie hatte offensichtlich den richtigen Ton getroffen, weil innerhalb von Tagen Hunderte von Zelten auf dem Boulevard und überall im Land aufgebaut wurden. Er endete in einer sehr großen Demonstration, die „der Marsch der halben Million“ genannt wurde, der zur Bildung einer Regierungskommission führte, die eine Liste von Anregungen erstellte, um die soziale Ungerechtigkeit zu mildern. Nur ein kleiner Teil von ihnen wurde realisiert.

Das ganze Unternehmen nannte sich „unpolitisch“; es wies Politiker jeder Art zurück und weigerte sich resolut, sich mit einem nationalen Problem, wie z.B. Frieden (Was ist das denn?), Besatzung, Siedlungen und Ähnlichem zu befassen.

Alle Entscheidungen wurden von einer anonymen Führung, die sich um Daphni gruppierte, getroffen. Einige Namen wurden bekannt, andere nicht. Die Massen, die sich ihnen anschlossen, waren mit ihren Vorschlägen einverstanden.

Nun nicht mehr. Die neue Initiative dieses Jahres hat offensichtlich keine Führung. Es gab keine zentrale Tribüne, keinen Hauptsprecher. Sie ähnelt dem Londoner Hyde Park Corner, wo jeder auf einen Stuhl klettern und sein oder ihr Evangelium predigen kann. Jede Gruppe hat ihren eigenen Stand, wo ihre Flugblätter ausgehängt waren, jede hatte ihren eigenen Namen, ihre eigene Agenda, ihre eigenen Redner und ihre eigenen „Guides“ (da wir sie nicht Führer nennen sollten).

Da der Platz groß ist und die Zuhörerschaft auf einige Tausend kam, funktionierte es. Viele verschiedene – und einige widersprüchliche – Versionen sozialer Gerechtigkeit wurden befürwortet: von einer Gruppe, die sich „Revolution der Liebe“ nannte (jeder sollte jeden lieben) bis zu einer Gruppe von Anarchisten (alle Regierungen sind schlecht, auch Wahlen sind schlecht).

Sie stimmten nur in einem Punkt überein: sie waren alle „unpolitisch“, alle schraken vor den Tabuthemen (s. oben) zurück.

Gideon Levy nannte die Szene „chaotisch“ und wurde unmittelbar von den Protestierenden angegriffen, die ihm vorwarfen, dass ihm das Verständnis fehlt, (wahrscheinlich sei er zu alt, um dies zu verstehen). Chaos sei wunderbar. Chaos sei wirkliche Demokratie. Es gebe dem Volk seine Stimme zurück. Es gibt dort keine Führer, die den Protest stehlen und ihn für eigene Zwecke und Egos ausnützen würden. Es ist die Art und Weise, wie sich die neue Generation selbst ausdrückt.

All dies erinnert mich an eine glückliche Periode – an die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als noch fast niemand dieser Demonstranten geboren war oder gar „in der Planungsphase“ war (wie Israelis es gerne ausdrücken).

Zu jener Zeit war Paris von einer Leidenschaft für soziale und politische Demonstrationen ergriffen. Es gab keine gemeinsame Ideologie, keine einigende Vision einer neuen Sozialordnung. Im Odeon-Theater ging Tag für Tag eine endlose und ununterbrochene Debatte weiter , während außerhalb Demonstranten Pflastersteine auf die Polizisten warfen, die sie mit bleiernen Säumen ihrer Mäntel schlugen. Jeder war begeistert; es war klar, eine neue Epoche der menschlichen Geschichte hatte begonnen.

Claude Lanzmann, der Sekretär von Jean-Paul Sartre und Liebhaber von Simone de Beauvoir und der später bei dem Monumentalfilm „Shoa“ Regie führte, beschrieb mir die Atmosphäre so: „Die Studenten verbrannten die Autos auf den Straßen. An den Abenden parkte ich meinen Wagen an entfernten Plätzen. Aber eines Tages sagte ich zu mir: Was zum Teufel brauch ich einen Wagen? Lasst sie ihn verbrennen!“

Aber während die Linke redete, sammelte die Rechte ihre Kräfte unter Charles de Gaulle, eine Million Rechte marschierte auf den Champs Elisées. Der Protest verlief im Sande und ließ nur ein vages Verlangen nach einer besseren Welt zurück.

Der Protest war nicht auf Paris beschränkt. Sein Geist infizierte viele andere Städte und Länder. Im unteren Manhattan herrschte die Jugend unangefochten. Provokative Poster wurden in den Straßen des „Village“ verkauft, junge Männer und Frauen trugen humorvolle Abzeichen an ihrer Brust.

Im Großen und Ganzen hatte die vage Bewegung vage Ergebnisse. Ohne eine konkrete Agenda gibt es auch keine konkreten Ergebnisse. De Gaulle stürzte einige Zeit später aus anderen Gründen. In den USA wählte das Volk Richard Nixon. Im öffentlichen Bewusstsein änderte sich manches, aber nach all dem revolutionären Gerede gab es keine Revolution.

Bei der Samstagsrallye ging die junge Daphni Leef und ihre Kameraden kaum bemerkt durch die Menge wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Nach nur einem Jahr schien es, als ob eine neue Generation die neue Generation vom Vorjahr übernehmen würde.

Es ging nicht darum, dass sie nicht in der Lage waren, sich um eine gemeinsame Agende zu einigen – es ging eher darum, dass sie nicht den Vorteil sahen oder gar die Notwendigkeit, eine gemeinsame Agenda, eine gemeinsame Organisation, eine gemeinsame Führung zu haben. All dies sind in ihren Augen schlechte Dinge, Attribute des alten, korrupten, diskreditierten Regimes. Weg mit ihnen!

Ich bin nicht ganz sicher, was ich darüber denken soll.

Einerseits mag ich es sehr. Neue Energien werden frei. Eine junge Generation, die egoistisch, apathisch und keineswegs gleichgültig schien, zeigt plötzlich, dass sie sich Sorgen macht.

Seit Jahren habe ich meine Hoffnung ausgedrückt, dass die jungem Leute etwas Neues schaffen – mit einem neuen Wortschatz, neuen Definitionen, neuen Slogans, neuen Führern, die sich total von den heutigen Parteistrukturen und Regierungskoalitionen trennten – einem Neubeginn. Der Beginn der zweiten israelischen Republik.

Also sollte ich glücklich sein, während ich auf einen wahr werdenden Traum schaue.

Und tatsächlich bin ich glücklich über diese neue Entwicklung. Israel benötigt notwendige soziale Reformen. Die Kluft zwischen sehr Reichen und sehr Armen ist unerträglich. Eine breite neue Sozialbewegung, auch mit großen Verschiedenheiten ist eine gute Sache.

Soziale Gerechtigkeit ist eine linke Forderung und ist es immer gewesen. Eine Demonstration, die schreit: „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“ ist links, auch wenn sie dieses Stigma meidet.

Aber die hartnäckige Weigerung, die politische Arena zu betreten und keine politische Agenda zu erklären, ist schlecht. Das könnte bedeuten, dass alles im Sande verläuft, genau wie die Bemühungen des letzten Jahres.

Wenn die Demonstranten darauf bestehen, sie seien unpolitisch – was verstehen sie darunter ? Wenn das bedeutet, sie identifizieren sich selbst nicht mit einer bestehenden politischen Partei, dann kann ich nur applaudieren. Wenn es nur ein taktischer Trick ist, um Leute aus allen bestehenden Lagern anzuziehen, applaudiere ich auch. Aber wenn es eine ernsthafte Entscheidung ist, die politische Schlacht den anderen zu überlassen, muss ich es verurteilen.

Soziale Gerechtigkeit ist ein klares politisches Ziel. Es bedeutet u.a. das Geld von einer Sache wegzunehmen und es sozialen Zwecken zukommen zu lassen. In Israel bedeutet es unvermeidlich, das Geld sowohl vom riesigen Militärbudget zu nehmen, als auch von den Siedlungen, von der Unterstützung, die als Bestechung an die Orthodoxen gezahlt wird und von den parasitären Magnaten.

Wo kann dies geschehen? Nur in der Knesset. Um dorthin zu kommen, ist eine politische Partei nötig. Also muss man politisch sein. Punkt.

Ein unpolitischer Protest, der die brennenden Fragen unserer nationalen Existenz vermeidet, ist etwas, das nichts mit der Realität zu tun hat.

Letztes Jahr verglich ich den sozialen Protest mit einer Meuterei an Bord der Titanic. Man könnte dies noch erweitern. Man stelle sich das wunderbare Schiff auf seiner Jungfernfahrt mit all den lebendigen Aktivitäten an Bord vor. Die Band bittet darum, alle altmodische Musik von Mozart und Schubert wegzulassen und durch harte Rockmusik zu ersetzen. Anarchisten verlangen, dass der Kapitän entlassen wird und wählen jeden Tag einen neuen Kapitän. Andere verlangen, die Schiffsübungen zu streichen – eine lächerliche Übung auf einem „unsinkbaren“ Schiff – und stattdessen sportliche Übungen anzubieten. Auch sollte der skandalöse Unterschied zwischen der ersten Klasse und den andern Passagieren gestrichen werden etc.

Alles gute Forderungen.

Aber irgendwo auf dem Weg lauert ein Eisberg.

Israel steuert auf einen Eisberg zu, auf einen größeren als einer von denen, die auf dem Weg der Titanic schwammen. Er ist nicht verborgen. Alle seine Teile sind von weitem sichtbar. Und wir segeln geradewegs mit Volldampf auf ihn zu. Wenn wir den Kurs nicht ändern, wird sich der Staat Israel selbst zerstören – er wird sich erst in ein Apartheidstaats-Monster vom Mittelmeer bis zum Jordan verwandeln und später vielleicht in einen binationalen Staat mit arabischer Mehrheit vom Jordan bis zum Mittelmeer. Bedeutet das, dass wir unsern Kampf für soziale Gerechtigkeit aufgeben müssen? Gewiss nicht. Der Kampf für soziale Solidarität, für bessere Erziehung, für verbesserte medizinische Dienste, für die Armen und Behinderten muss jeden Tag, jede Stunde, weitergehen.

Bedeutet das auch, dass dieser Kampf ein Teil des weiteren Kampfes sein muss – politisch und ideologisch – für die Zukunft Israels, für das Ende der Besatzung, für Frieden.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde am 19.05.2012 unter www.uri-avnery.de erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

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