Der Gute Mensch von Tokio – Berlinale Wettbewerb: Yoji Yamada widmet „Otouto“ einem würdigen Altwerden und Sterben in Japan und seinem verstorbenen Kollegen Kon Ichikawa

Tsurube Shofukutei und Sayuri Yoshinaga in "Otouto"

Ginko ist Witwe, führt mit ihrer Tochter Koharu (Yu Aoi) und ihrer Schwiegermutter die Takano Pharmazie, also auch beruflich dem Helfen verpflichtet. Die Tochter macht eine gute Partie, obwohl man den Mann und dessen neureiche Familie von Anfang an nicht mag. Bei der repräsentativen Hochzeitsfeier taucht nun überraschend Tetsuro (Tsurube Shofukutei) auf, der jüngere Bruder von Ginko, die sich zwar freut ihn zu sehen, die aber ahnt, daß dies übel ausgehen wird. Denn dieser ist ein Trunkenbold, ein Tunichtgut, aber auch witzig und guter Dinge. Als er völlig betrunken dann seine Lieder zum Besten gibt, lallt und umfällt, wird er herausgeführt, die Hochzeit endet als Blamage und die neue Familie fürchtet sich sogleich vor den DNA, die die junge Braut mitbringt.

Die Ehe geht schnell schief und Koharu ist froh, daß sie wieder zu Hause ist und ihre Mutter unterstützen kann. Eines Tages taucht eine Frau auf, etwas heruntergekommen und vom Typ verblühte Schönheit, die sich als Tetsuros Ehefrau vorstellt und bitterlich weinend von ihm erzählt, wie er durch Glücksspiel und Alkohol sich und beide ruiniere. Sie hält der Schwester den Schuldschein vor, in dem der Bruder bestätigt, von ihr 1, 3 Millionen Yen erhalten zu haben. Das ist viel mehr, als Ginko eigentlich hat. Aber sie geht an die Ersparnisse und zahlt dieser Frau das Geld, das diese für ihre Alterssicherheit gespart hatte und das der Bruder ausgegeben hatte. Als der nun bald auftaucht, weist ihn die Schwester aus dem Haus. Sie will ihn nicht mehr sehen.

Nach vielen Jahren erhält sie einen Anruf, daß ihr Bruder schwer krank aus dem Krankenhaus in ein privates Hospiz gebracht wurde und sein Sterben bevorsteht. Sie fährt stracks hin, er weist sie erst einmal ab, ist dann aber glücklich und im Kopf noch so fit, daß er sie leimt und sie wie Wasser aussehenden Alkohol in die Flasche füllen läßt, die per Kanüle Flüssigkeit in sein Blut bringt. Er wird immer lustiger, fängt an zu singen, kriegt einen roten Kopf, bis man seine Trunkenheit und die Ursache bemerkt. Die Szene ist nicht wichtig im dramaturgischen Ablauf, aber sie soll schildern, wie es Yamada gelingt, kleine Geschichten in seine Geschichte zu transportieren. Es spielen viele Dinge des Alltags eine zwar nebensächliche, aber gut beobachtete Rolle.

Zum Sterben, das der Bruder mit dem 7. April schon früh terminierte, was auch eintritt, kommt auch die Nichte mit dem Mann, der von Anfang an hilfreich als Jugendfreund um sie war. Sie verabschieden sich von Tetsuro und der stirbt inmitten seiner Angehörigen. Später wird der Regisseur dazu sagen, daß dies genau das Anliegen seines Filmes sei. Daß man die alten Menschen im modernen Japan nur noch als Ballast wahrnehme, sich um sie nicht ausreichend kümmere und eine neue Haltung gegenüber den Alten, auch gegenüber einem würdigen Sterben gesellschaftliche nötig sei.

So weit, so gut, und menschlich auch. An dem Film beeindruckt die Langsamkeit, mit der die Bilder auf die Leinwand kommen, so daß man auch noch Zeit für die Details beim Schauen hat. Dies habe, so sagt der Regisseur anschließend, auch damit zu tun, daß er Widerstand leiste gegen die Diktatur der schnellen Schnitte und vielen Kameras, die heute Regisseure nur noch über Monitore leisten können, was das Fernsehen wiederhole. Er steht bei seiner Kamera und arbeitet auf die traditionelle Weise wie die Großmeister des japanischen Kinos. Das ist gut so und gibt dem Film einen Rhythmus.

Zwiespältig erlebt man dagegen die Rolle der guten Fee, der älteren Schwester Ginko. Sie ist wirklich der Gute Mensch von Tokio und von morgens bis abends auf eine Art gut und verständnisvoll, daß man sich schon fragt, welchen Teil ihrer Persönlichkeit sie noch für sich hat, so unaufhörlich ist sie damit beschäftigt, andere glücklich zu machen. Der Regisseur meinte dazu, sie habe alles, was sie brauche, eine erfüllte Ehe liegt hinter ihr, sie hilft ihrem Bruder selbstlos, für ihn ist diese Frau ein Ideal, mit dem er einverstanden sei. Und weil nicht alle japanischen Frauen so wie Ginko sind – sicher die wenigsten -, will er sie als Vorbild zeigen. Nach der Vorführung hätten viele Japanerinnen gefühlt, „warum bin ich nicht netter“, aber er habe den Film eigentlich auch deshalb gedreht, weil er selbst oft genug nicht nett war zu seiner Familie. „Wenn nach dem Filmbesuch die Leute netter sind zu ihren Angehörigen, ihnen ein Geschenk kaufen oder sie einfach mehr beachten, dann ist es gut und das erreicht, was seine Filme ausmacht. Ich bin zufrieden, wenn ein Zuschauer seine Kälte und Unfreundlichkeit noch einmal reflektiert. Das ist eine Verbindung, die ich mit dem Publikum suche.“, sagte Yoji Yamada ausdrücklich.

In der Schlußszene stoßen alle auf die Hochzeit an und als die Frauen zusammensitzen, wird die kühle Schwiegermutter auf einmal menschlich, erinnert an den Bruder der Schwiegertochter, dessen Tod sie vergessen hat, und findet im Nachhinein, daß der, der die Hochzeit ruiniert hatte, doch ganz nett sei und zur zweiten Hochzeit eingeladen werden solle. Mit dieser versöhnlichen Szene wollte der Regisseur ausdrücklich den Film abschließen.

Originaltitel: Otouto

Englischer Titel: About Her Brother

Land/Jahr: Japan 2010

Regie: Yoji Yamada

Darsteller: Sayuri Yoshinaga, Tsurube Shofukutei, Yu Aoi

Wertung: * * * *

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