Was allerdings Leitung, Organisation, Ausstattung und Marketing des Theatertreffens angeht, so sind dort kaum Männer zu finden. Das wichtigste Festival des deutschsprachigen Theaters wird fast ausschließlich von Frauen gemanagt, und die leisten so hervorragende Arbeit, dass es einfach Freude macht, beim tt dabei zu sein.
Insgesamt 52 Veranstaltungen finden in der Zeit vom 1. bis 18. Mai statt. Für die Eröffnung mit Christoph Schlingensiefs Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst“ wurde im Haus der Berliner Festspiele ein ganzes Kirchenschiff errichtet. Wegen begrenzter Platzkapazität gab es zwei Voraufführungen bereits vor dem offiziellen Festivalbeginn, und obwohl nur neun der zehn ausgewählten Inszenierungen gezeigt werden können, denn Christoph Marthalers Projekt „Das Theater mit dem Waldhaus“ ließ sich nicht nach Berlin verpflanzen, dauert das Theatertreffen einen Tag länger als üblich, damit eine zweite Vorstellung der „Marat“-Inszenierung von Volker Lösch ermöglicht werden konnte.
Aufführungsorte sind neben dem Haus der Berliner Festspiele das Deutsche Theater und das Maxim Gorki Theater, und für die Produktion „Hier und Jetzt“ wurde eine ganz besondere Spielstätte gefunden.
Im Stammhaus an der Schaperstraße ist ständig in allen Räumen Programm, denn neben den großen Inszenierungen gibt es szenische Lesungen neuer Stücke, Filmvorführungen, Diskussionen, Preisverleihungen, Nachtmusikkonzerte und Parties.
Chaos oder Hektik sind jedoch nicht zu spüren. Alles verläuft reibungslos und entspannt. Das tt ist eben ein Festval mit Weltformat und, bei aller organisatorischen Perfektion, ganz familiär, zum Wohlfühlen.
Die feierliche Eröffnung mit „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ von Christoph Schlingensief wurde hymnisch gefeiert. Ich habe es vorgezogen, mir die Aufzeichnung in 3sat anzusehen, und war überrascht, dass dieses Oratorium nicht, wie ich befürchtet hatte, Ängste schürte, sondern, ganz im Gegenteil, Lebensmut weckte. Es ist eine großartige Leistung, wenn ein schwer kranker Künstler das, was ihn tödlich bedroht, als Material verarbeitet für ein beeindruckendes Kunstwerk, wie es Schlingensief, gemeinsam mit einem hervorragenden Ensemble, gelungen ist.
Meine ersten Besuche beim tt galten den Produktionen „Wunschkonzert“ vom Schauspiel Köln und „Hier und Jetzt“ vom Schauspielhaus Zürich. Es handelt sich dabei um ganz unterschiedliche, gar nicht vergleichbare Inszenierungen. Gemeinsam haben sie nur, dass die Stücke in beiden Fällen wenig gehaltvoll sind.
„Wunschkonzert“ ist eigentlich gar kein Stück, besteht nur aus einigen Seiten Regieanweisungen, die der Dramatiker Franz Xaver Kroetz 1971 verfasste, und die 1973 uraufgeführt wurden. Es geht um eine nicht mehr ganz junge Frau namens Rasch, die , wie in den 1970er Jahren noch üblich, mit der Bezeichnung Fräulein als unverheiratet gekennzeichnet ist. Fräulein Rasch kommt von der Arbeit nach Hause, verbringt den Abend mit ihren gewohnten alltäglichen Verrichtungen und hört dabei das Wunschkonzert vom Bayerischen Rundfunk. Weil sie offenbar ganz allein ist, im Stich gelassen von der Gesellschaft und sich der Leere ihrer Alltagsrituale bewusst wird, begeht sie Selbstmord.
Die britische Regisseurin Katie Mitchell, geb. 1964, in Großbritannien berühmt und umstritten als Erneuerin des Theaters, hat sich dieser Arbeit von Kroetz angenommen und daraus, gemeinsam mit dem Videokünstler Leo Warner, einen Film gemacht, der live auf der Bühne hergestellt wird.
Es ist spannend, zu beobachten, wie die Kameraleute und Tontechniker herumwuseln, und die SchauspielerInnen Therese Dürrenberger, Laura Sundermann, Birgit Walter und Stefan Nagel präzise und blitzschnell Requisiten herbeischaffen und ordnen, Geräusche produzieren und vor der Kamera ihre Hände und Füße präsentieren. Die Musik zum Film wird live aus einem Tonstudio auf der Bühne von einem Streichquartett produziert.
Auf einer Leinwand ist der Film zu sehen mit Julia Weininger als Fräulein Rasch. Die Filmkulissen, der Tisch mit Schreibmaschine in Fräulein Raschs Büro, der Bahnsteig der U-Bahn, auf dem Fräulein Rasch wartet und die Wohnung von Fräulein Rasch sind auf der Bühne aufgebaut. Manchmal ist Julia Weininger sowohl in den Kulissen als auch auf der Leinwand zu sehen, und zeitweilig verschwindet die reale Schauspielerin hinter der herabfahrenden Zimmerwand.
Der Film ist stumm. Fräulein Rasch spricht nicht, und die Geräusche, die sie macht, wenn sie geht oder ihren Mantel auszieht, werden synchron auf der Bühne von ihren Kolleginnen erzeugt. Das ist ein bisschen viel Sachkundeunterricht, aber doch eine gute Ergänzung zum Film, denn im Produktionsprozess zeigt sich die Lebendigkeit und zielgerichtete Aktivität, die der Filmfigur Fräulein Rasch fehlt.
Kroetz hat seiner Heldin keine Vorgeschichte gegeben und hat sie nicht mit persönlichen Merkmalen ausgestattet. Dieses Fräulein Rasch ist eine ganz beliebige Person ohne irgendwelche Besonderheiten, ein Klischee.
Daran hat Katie Mitchell nichts geändert. Sie hat nichts hinzu erfunden, was dieses langweilige Fräulein Rasch zu einer begreifbaren Persönlichkeit machen könnte. Ein paar Erinnerungen tauchen im Film auf: Therese Dürrenberger, vermutlich als Fräulein Raschs Mutter, stirbt auf einer Wiese; Kinderlachen und hüpfende Füße im Herbstlaub, die Beine einer Frau und eines Mannes beim Tanzen; schöne Bilder, die nichts erklären.
Die Ausstattung der Wohnung ist detailgetreu im Stil der 70er Jahre. Fräulein Rasch, anscheinend ohne Beziehung zu Menschen, hat nur noch zu dieser Wohnung eine enge Verbindung und geht sorgsam mit dem Dingen um, die sie umgeben, und die im Film immer wieder in Großaufnahmen erscheinen. Aber Fräulein Raschs Bemühungen laufen ins Leere. Das Brot das sie geschnitten, mit Käse belegt und mit Gurkenscheiben dekoriert hat wie für einen lieben Gast, kann sie nicht essen. Sie weint, weil sie sich nicht lieben und diese Fürsorglichkeit für sich selbst nicht ertragen kann. Und doch lässt sie das Brot nicht einfach stehen, sondern hüllt es in Plastikfolie ein und stellt es in den Kühlschrank.
Fräulein Rasch hat zwar keine Geschichte, aber Julia Weininger verleiht ihr ein Gesicht und einen Körper. Mit jeder Geste, jeder winzigen Veränderung ihrer Mimik drückt Julia Weininger eine Traurigkeit aus, in deren Tiefe Erklärungen nicht hinabreichen könnten, und dazu liest Laura Sundermann aus Gedichten von Anne Sexton, in denen von der Schönheit des Lebens die Rede ist und von der Unmöglichkeit, sie zu ertragen.
„Hier und Jetzt“, Titel des Stücks von Roland Schimmelpfennig, ist auch das Motto des tt 09.
Schimmelpfennig hat das Stück eigens für den Regisseur Jürgen Gosch geschrieben, der es im Zürcher Schiffbau zur Uraufführung brachte.
Für das diesjährige Theatertreffen wurden zwei Inszenierungen von Jürgen Gosch ausgewählt: „Die Möwe“ von Tschechow, eine Produktion des Deutschen Theater, die in Berlin von Publikum und Kritik mit großem Beifall aufgenommen wurde und „Hier und Jetzt“, in Zürich ebenfalls mit Beifall bedacht.
Zudem wurden Jürgen Gosch und sein Bühnenbildner Johannes Schütz im Rahmen des Theatertreffens mit dem Theaterpreis der Preußischen Seehandlung ausgezeichnet.
Bemerkenswert bei der Aufführung von „Hier und Jetzt“ schien mir erst einmal die Auswahl der STATION-Berlin, des Alten Postbahnhofs am Gleisdreieck, als Spielort. Diese heruntergekommene Halle liefert eine wunderbare Atmosphäre für kreatives Theater. Und die Ausstattung von Johannes Schütz weckt die Erwartung, dass tatsächlich kreatives Theater geboten werden soll:
Der Boden der Halle ist mit Erde bedeckt. Das Publikum sitzt auf in einen Erdhügel hineingebauten ansteigenden Stufen auf Kissen, die am Eingang verteilt werden. Der Zuschauerterrasse gegenüber steht auf einem Podium eine weißgedeckte Festtafel, hinter der eine elfköpfige Hochzeitsgesellschaft sitzt, mit dem Brautpaar in der Mitte.
Bis dahin ist alles ganz großartig. Danach jedoch kommt nicht mehr viel. Während des ganzen Stücks wird Hochzeit gefeiert. Da aber alles Hier und Jetzt ist, betrügt und verlässt die Braut gleichzeitig ihren Mann, der deshalb wahnsinnig wird. Der Liebhaber der Braut wird zusammengeschlagen, zwei Männer brechen unter dem Gewicht der Schwerter, mit denen sie sich duellieren wollen, zusammen, und ein nackter Mann trägt einen nackten Mann auf dem Rücken einen Hügel hinauf und hinab. Die Hochzeitsgäste machen Musik, singen, tanzen, betrinken sich, beschreiben die kommenden und gehenden Jahreszeiten, und im Winter stehen alle auf dem Tisch und werfen mit Federn.
Absurdes Theater könnte das sein, aber das Stück von Roland Schimmelpfennig erscheint wie zusammengerupft aus den Texten verklemmter Comedians und den Verlegenheitssätzen aus Telenovelas. Und Jürgen Gosch ist nichts eingefallen, was diesem Wust Gestalt geben oder zum Zusammenspiel der AkteurInnen beitragen könnte.
Die meisten Mitwirkenden agieren planlos vor sich hin, entweder nahezu unauffällig oder peinlich dick auftragend. Zwei Schauspielerinnen allerdings haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt:
Christine Schorn als Ilse, die Insektenforscherin, die ständig über Stechmücken und den Flug der Biene doziert, eine skurrile Person, naiv, weltfremd, immer aus dem Mustopf kommend und von hinreißender Komik.
Außerdem Yohanna Schwertfeger, deren Rolle im Programmheft nur als „Eine junge Frau“ angegeben und der nichts Konkretes zugeschrieben ist. Yohanna Schwertfeger jedoch macht etwas aus diesem Nichts. Sie gibt sich aufmüpfig, präsentiert sich aufreizend sexy und bringt auch cooles Gelangweiltsein faszinierend unterhaltsam zum Ausdruck.
Die Meinung des Publikums zu dieser Veranstaltung war erkennbar geteilt: Eine Hälfte der ZuschauerInnen strebte nach Ende der Vorstellung eilig dem Ausgang zu, die andere Hälfte applaudierte und rief Bravo.
Im Rahmen des Berliner Theatertreffens 09 war „Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz in der Regie von Katie Mitschell am 5. u. 6. Mai im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, und „Hier und Jetzt“ von Roland Schimmelpfennig, Regie Jürgen Gosch vom 07.-09. Mai in der STATION-Berlin.