Der Garten der Lüste – Düstere Geheimnisse der Kindheit: der Bildband „In the Garden of Eye Candy“ von Gingko Press

„I am doll eyes,

Doll mouth, doll legs

I am doll arms,

Big veins, dog bait.“

(Hole)

Die „In the Garden of Eye Candy“ erblühenden visuellen Schätze entführen auf 288 Seiten in eine junge, weiblich geprägte Spielart des Lowbrow genannten Pop-Surrealismus. „Sie sind sehr feminin.“, beschreibt die Künstlerin Candy Bird die Charaktere auf ihren Illustrationen (Seite 16-23). „Sie mögen zerbrechlich erscheinen, doch bei näherem Hinsehen sind sie mysteriös und kalt. Sie besitzen Macht.“ Hält das weinenden Mädchen den mechanischen Vogel und die Ballerina in ihrer „Music Box“ gefangen? Die Marionette auf „Daruma Help me“ vollendet selbst eine madenförmige Matrioschka in ihren Händen. Über ihr schwebt die Schere, welche sie vom Fadenkreuz befreien, somit jedoch auch den Halt nehmen kann. An viktorianische Puppen erinnern die zierlichen Kindfrauen, die ein Blick der Künstlerin hinter dem Pseudonym Kukulaland. „Into the feminin world of Kukulaland“ (Seiten 48 bis 55) führt das ihr gewidmete Kapitel, welche Nasser wie die anderen mit einem das künstlerische Werk widerspiegelnden Titel versah. Totenkopfblumen und verstummte Uhren kreieren morbide Romantik um Kukulalands zartgliedrige Mädchen. Unter der verletzlichen Erscheinung der Figuren verbirgt sich die Stärke geheimer Bündnisse mit ihren abgebildeten zwillingshaften Seelenschwestern („Bru Sisters“, Kukula pearls med res“). Die farbenfrohen Figuren Lisa Petruccis verbinden mit sprühender Ironie klassische Pin-ups und populäre Ikonen. Luke Chuehs tragisch-komische Teddybären kommentieren zynisch hemmungslosen Konsum („The Alchemist“) und die Bedeutungslosigkeit massenmedial zelebrierter Tragödien („The Queen is dead“). In der melancholischen Schattenwelt Nicoletta Cecollis sprießen blasse Mädchen aus Büschen und Blumen („Flora“, „Butterfly“, „Sheryl“) und gehen bizarre Symbiosen mit Insekten ein („Spidergirl“, „Grasshopper and girl“). Uralte Augen blicken auf den Porträts des Schweizer Künstlers Saul Zanolari aus übergroßen Kinderköpfen und lassen seine Figuren trotz ihres drolligen Äußeren nachdenklich oder angstvoll dem Betrachter entgegen starren.

„Sugar, sugar, sugar that man is wild

And sugar You know that You ´re merely a child.“

(Nick Cave and The Bad Seeds)

„In the Garden of Eye Candy“ präsentiert eine von Frauen dominierte Subkultur der modernen Kunstszene. Über zwei Drittel der in Nassers Bildband versammelten Zeichner sind weiblich. Bonbons zieren die Innenseiten des Einbands. Die Begriffe „Candy“, „Sugar“ und „Sweet“ erscheinen häufig in Werktiteln. Das Süße wird gezielt ins Süßliche übersteigert, bis es den süßlichen Duft der Verwesung annimmt. Die Verkehrung ins Abstoßende enthüllt die Perversion der vermeintlichen Koseworte, welche ihre Trägerinnen mit Genussmitteln gleichsetzten. Das gesellschaftliche Ideal des perfekten Mädchens enthüllen die Künstlerinnen als das eines Konsumartikels und Genussmittels, eine zellophanverpackte, mit Schleifchen verzierte Süßigkeit zum Auswickeln. Von der erstickenden Wirkung dieses Ideals zeugen die Bilder erotisierter oder naiv blickender Kindfrauen, die blutige Zuckerwatte erbrechen, giftige Lutscher kosten und sich in Zuckerperlenketten verfangen. Viele der von den Künstlern „In the Garden of Eye Candy“ dargestellten Spielsachen sind „Mädchenspielzeug“: Schmuckschatullen, Spieluhren mit pirouettendrehenden Ballerinen, Puppengeschirr und Stofftiere. Kostbar gekleidete Porzellanpuppen, deren Augen sich zu mechanischer Ruhe schließen, wenn man sie hinlegt. Vorbilder für kleine Mädchen, adrett und hübsch zu sein, Kinder, die man sieht und nicht hört? Das starre Plastiklächeln auf gemalten Puppenlippen als Ideal unermüdlichen Frohsinns? Papierene Ausschneidefiguren samt Garderobe, gleich pädophilen Wunschfantasien lächelnd, zum Entkleiden einladend.

Friedhof der Kuscheltiere

Die rigide Moral von Märchen wie „Rotkäppchen“, welches vor den Gefahren der im Abweichen vom Wege verkörperten Unkeuschheit warnt, oder „Schneewittchen“ mit seiner Gegenüberstellung häuslicher Tugend und Fürsorge und der „weiblichen“ Makel Eitelkeit, Neid und Unmütterlichkeit. In „In the Graden of Eye Candy“ befreien sich die Märchenfiguren auf den Zeichnungen aus ihren Rollengefängnissen. Saul Zanolaris Rotkäppchen trägt Attribute des bösen Wolfs. Mijn Schatje zeichnet ein entrücktes Schneewittchen und eine digitale Alice im Wunderland, welche Kaninchenkopf, Flamingo und Herzsymbol gleich Glücksbringern angesteckt hat. Getarnt im tapetenartigen Hintergrund lauert dutzendfach die Grinsekatze als heimlicher Komplize. Juri Uedas Version der Alice blickt großäugig von einer verschwommener Pastellzeichnung, die Uhr des eiligen Kaninchens in der Hand und sein abgezogenes Fell als Kappe auf dem Kopf. Inzestuöse und sodomitische Anklänge lauern in den künstlerischen Variationen von „Brüderchen und Schwesterchen“: Corrie Gregorys düsteres „Deer Girl“ (Seite 204) und Amy Sols sanftes Mädchen neben einem fabeltierartigen Reh („Dillydally ticky-tock“, Seite 7). Auch die in den Kunstband nicht aufgenommene Zeichnung „Solitary Tea“ Kukulalands scheint von diesem Grimms-Märchen inspiriert.

Moderne Trickfilm- und Literaturfiguren wirken emanzipiert im Vergleich zu den klassischen (Rollen)Spielmodellen. Teufelin, Piratin, Batgirl und die Braut Frankensteins aus James Whales Horrorklassiker lächeln frech von Lisa Petruccis Vignetten. Selbstbewusst locken Pin-ups mit augenzwinkernder Erotik. Auf „Cat Food“ der Hongkonger Künstlerin Carrie Chau tanzt eine kokette Puppe aus Andy Warhols „Campell ´s“ Suppendose Pirouetten. Die Leichtigkeit der Figuren verdeckt nicht die Ahnung latenter Gewalt. Der weibliche „Cherub“ der gegenüberliegenden Zeichnung tanzt auf angehefteten Prothesenbeinen zu lautloser Blechblasmusik. Dem über Fabrikqualm geräuchertem weißen Hasen hat eine winzige Köchin ein Kotelett aus dem Bauch geschnitten. Die Teller in den Händen stehen ihre Freundinnen schon Schlange. Rote Ameisen kriechen über das barock frisierte Haupt einer Lolli-Esserin auf Camille D ´Ericcos „Cotton Candy Curly Cue“. Dem barbrüstigen Mädchen auf der Nebenzeichnung („Bird Buffet“) stopfen sich Spatzen in den Mund, Wespen bohren sich in die Zunge des Albinomädchens auf „Red Strings of Fate“.

Den als Plastikgefängnis in einer Spielzeugwelt auferstandene Goldenen Käfigs zerstört die junge, unverbrauchte Künstlergeneration radikal. Candy Bird zeigt in „Hate me" (Seite 16) einen gefolterten Teddy. Auf Seite 98 reitet die mädchenhafte Dominatrix der Künstlerin Nicoletta Ceccoli ein verwundetes Stoffhäschen. Den Ausbruch aus der Beschränkung des Konventionellen beschreibt Camilla D ´Ericco in dem ihr gewidmeten Kapitel „The high fructose world“: „Die zweidimensionale Welt ist so wundervoll, weil sie in der echten Welt nicht existiert. Sie ist ein wunderschöner Ort, der alles sein kann, was wir uns vorstellen. Die Gesetze der Physik gelten nicht, sie ist der vollkommene Eskapismus!“

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Abdul Nasser: The Garden of Eye Candy, Gingko Press, 2009, 288 Seiten, www.gingkopress.com

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