Alles Fragile muss in dieser Welt zerbrochen werden. Mit unerbittlicher Konsequenz folgt Seth diesem ungeschriebenen Gebot. Zuerst zerstört er eine schimmernde Muschelschale im Haus der blassen Dolphin Blue (Lindasy Duncan), dann eine zaghafte Romanze seines Bruders Cameron (Viggo Mortensen), der als Soldat an der Bombardierung Japans beteiligt war, und schließlich den letzten Rest Kindlichkeit in sich. „The Reflecting Skin“ verläuft in einer gespenstischen Ellipse, welche die Todessymbolik der verstörenden Bildmotive beständig steigert. „Schreckliche Dinge geschehen oft ganz unvorhergesehen.“, erzählt Seth die ätherische Dolphin, die umgeben von Seefahrtsmemorabilia in einem symbolischen Mausoleum lebt. Dolphin, Seth, Cameron und beider Eltern: Alle hüten morbide Geheimnisse. Fetischisierte Nägel und Haare von Toten, einen flüsternden Engel, der in Wahrheit ein mumifizierter Embryo ist, eine Fotografie von einem verstrahlten Baby mit Haut wie Spiegelglas, der „Reflecting Skin“ des Filmtitels.
Augenblicke dehnen sich in der Einöde zu Jahrhunderten. Zweihundert Jahre sei sie alt, erzählt Dolphin Blue. Uralt sind Ridleys Figuren, am ältesten die Kinder. Unter ihren zarten Gesichtern verbergen sie die grausamen Seelen verbitterter Greise. Den flüchtigsten Hauch von Freude neiden sie einander und umkämpfen es. Das einzige Vergnügen, dass sie kennen, ist das Bereiten von Qual. Einen Frosch, den Seth und seine Freunde finden, blasen sie auf, um ihn vor Dolphins Gesicht platzen zu lassen. Doppeltes Leid ist doppelte Freude. Als Seth sich für seine Tat bei ihr entschuldigen muss, erzählt die fragile Dolphin verträumt, wie sie als Mädchen Katzen folterte. Die Natur, deren nährenden Reichtum die elegischen Kameraperspektiven in malerischen Bildkompositionen einfängt, misshandeln die Protagonisten mit sadistischer Verachtung. Sie sind nicht die Bauern auf Jean-Francois Millers Gemälde, deren „Abendgebet“ mehr dem Feld als einem Gott dankt. Das warme Licht Millets weicht in Ridleys Drama einem fahlen Gleißen
Gleich Schädlingen kriechen die Menschen durch das Getreide, dessen Wogen wie angstvolles Erzittern erscheint. Ihre ausgemergelten Gliedmaßen in der abgetragenen Kleidung erinnern an Fühler, auf denen sie in endlosen Zirkeln die staubigen Landstraßen entlangwandern. Die verstörende Grausamkeit gegenüber ihrer Umwelt zeigt das Ausmaß der menschlichen Verrohung in „The Reflecting Skin“, wenn sie nicht durch Furcht und Einschüchterung gezügelt wird. Alptraum einer Kindheit, raunt Dolphin Blue: „Und er wird grauenvoller.“ Davon erzählen Ridleys spätere Filme.
Titel: The Reflecting Skin – Schrei in der Stille
Land/ Jahr: Großbritannien, Kanada 1990
Genre: Drama
DVD-Start: 6. September 2009
Regie und Drehbuch: Philip Ridley
Darsteller: Jeremy Cooper, Viggo Mortensen, Lindsay Duncan, Sheila Moore, David Bloom, David Longworth, Robert Koons, Sherry Bie, Duncan Fraser
Kamera: Dick Pope
Musik: Nick Bicat
Schnitt: Kristin Thomas
Laufzeit: 95 Minuten
Verleih: Atlas Film