Der „böse“ Blick – In den Augen des Gegenübers und in den eigenen, verinnerlichten Augen

Ich habe schon von ihm berichtet. In der Kindheit war er dazu erzogen, dass Männer etwas Böses sind "Vergewaltiger, Missbraucher, Säufer und Nichtsnutze", und er selbst so ein Mann auf keinen Fall werden dürfe. Diese Erfahrungen hatten die Frauen in den Vorgenerationen durchgemacht und sie fürchteten sie bei sämtlichen Männern. Sämtlichem Ungehorsam, Schreierei, Unhöflichkeit, Schmutzigkeit, lauter auffallende Eigenschaften, begegnete die Mutter mit einem traurigen, schmerzvollen Blick, so dass er sie unbedingt verschonen musste. Und sie wollte nur sein Bestes. Gleichzeitig regte sich bei ihm Widerstand und Trotz, der bei ihm ein schlechtes Gewissen erzeugte.

Diese Zusammenhänge wurde verinnerlicht, er machte sie sich zu eigen, und das war die Matrix, der Mutterboden, und das bildete eine wesentliche Komponente seiner Beziehungen zu anderen Menschen. Er bewegte sich unauffällig, war unauffällig gekleidet und entsprach dem Durchschnitt, um ja nicht aufzufallen. Es war anstrengend, ja sogar so unerträglich für ihn, nach diesen Bildern zu leben, dass er am liebsten nicht da gewesen wäre. Er konnte den Menschen nicht vertrauen, lehnte sich selber ab und verurteilte sich nach Maßstäben, die er mitbekommen hatte. Er war in ständigem Widerstreit zwischen dem was er verinnerlicht hatte, und er versuchen dagegen zu halten, sich zu wehren und sein Selbst zu bewahren. Die so genannten Kopfnoten "Aufmerksamkeit, Betragen und Ordnung" waren seine Leitlinien. Jetzt bemerkte er verbittert, so wird ein Mensch kaputtgemacht. Um überhaupt zu überleben, hat er dieses verdrängt, auf eine tiefere Ebene verschoben, aber es war jederzeit aktualisierbar.

Vor allem sein Widerstand, die ständige Opposition und Trotz, der ihm aber auf die tiefere Ebene verlagert nicht bewusst war, rief bei ihm Verkrampfungen, Verspannungen und Schmerzen hervor. Kommt etwas von außen etwa in der Firma vor, etwa Anforderungen, dies und jenes zu tun, sträubt er sich und empfindet das als Angriff. Jedoch aufgrund der Verdrängung seines Protestes bleibt er an diesem Punkt hängen. Er denkt, er muss das machen, gibt den anderen Recht, will aber nicht. Er schwebt in einem Zustand zwischen Gehorsam und Verweigerung. Die Mutter und die anderen haben alle Rechte, aber nicht nur aus Stärke, sondern vor allem aus ihrer Schwäche, weil sie selber bedroht sind und er sie schonen muss. Er hat Angst um sie, sie zu verlieren und spürt in seiner Mutter und in den anderen Menschen ein hilfloses Kind. Ihre Schwäche ist sozusagen ihre Stärke.

Seine Ängste gegenüber anderen gegenüber, ihrem bösen Blick, sind in ihm sozusagen einprogrammiert, aber auf einer unbewussten Ebene. Jetzt sieht er, nach vielen Stunden Therapie, dass dieser Blick in ihm selbst ist. Seine ganzen Bemühungen, sich selbst zu bewahren und diesen Blick von ihm fernzuhalten, etwa durch verschlossene Augen, durch nicht Hinsehen, waren umsonst. Er war ja in ihm, was er fürchtete, war schon da. Aber er konnte nicht mehr zwischen sich und den anderen unterscheiden.

Gleichzeitig nahm er war, dass in ihm eine Illusion steckte, durch die Abwehr könnte er sich bewahren und behaupten, könnte er etwas aufrechterhalten, also ein Bild von Autonomie. Dieses Bild von Autonomie, er  wolle nicht so sein, wie er sei, nahm für ihn den Charakter von Realität an, die ihm weiter durchs Leben half. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig.  Illusionen können einerseits durch das Leben helfen, andererseits muss ständig gefürchtet werden, dass sie nicht wahr sind.

Die Abgrenzung oder Grenzziehung zwischen sich und dem anderen, die auf einen genügenden Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl beruht, bedeutet, dass, wenn jemand tatsächlich einmal einen bösen Blick hat, weil er mir aus diesen oder jenem Grunde böse ist, man wahrnimmt, dass das der andere ist, er seine Gründe hat, und ich diese im besten Falle wahrnehmen oder vermuten kann oder er mir sie sagt. Dann ist der das und nicht ich. Aber das ist bei einer traumatischen Kindheit äußerst schwierig. Das Unterscheidungsvermögen zwischen sich und dem Anderen wurde nie erworben oder ist verloren gegangen.

Als Folge tritt eine außerordentliche Verletzlichkeit oder Kränkbarkeit auf. Es kann nicht mehr zwischen sich und dem anderen unterschieden werden. In dem Wort kränkbar steckt schon die Krankheitsanfälligkeit, wie es auch bei diesem Patienten der Fall ist. Aber in der letzten Zeit nehme ich bei ihm im Blick auf dem Wege der Selbstfindung Dankbarkeit war, einen dankbaren Blick.

Wenn man schizophrene Bilder malen lässt, dann fallen vor allen die großen kontrollierenden Augen auf. Offenbar haben sie in der Kindheit diese Blicke erlebt, die sie ganz verrückt werden lassen, wie an diesem Patienten nachvollziehbar ist. Er selbst versuchte ebenfalls zu kontrollieren. Derartig Traumatisierte sind häufig damit beschäftigt, die Blicke anderer zu kontrollieren. Der Andere fühlt sich dabei unwwohl und kontrolliert, in seiner Bewegung eingeengt. Schließlich müssen sie ja wissen, was andere negatives über sie denken und was von ihnen böses zu erwarten ist. Arbeitslose oder Hartz IV Empfänger trauen sich kaum in der Öffentlichkeit, da sie die abwertenden Blicke anderer befürchten, die aber in ihnen selbst sind. Sie selbst sind Ihr eigener Feind. Ansonsten würden sie selbstbewusst auf die Straße gehen, schließlich ist nach den Kriterien der Eine erfolgreicher als der Andere nach welchen Maßstäben auch immer und dafür braucht man sich nicht zu schämen.

Aber der Mensch lebt im Vergleich, er vergleicht sich ständig mit den anderen, und Erfolglosigkeit ist bei verinnerlichten abwertenden Schemata eine Schande. Durch diesen Vergleich geht  die Individualität verloren, daß jeder Mensch einzigartig ist mit jeweils unterschiedlichen individuellen Erfahrungen, wenn auch diese nicht günstig sein mögen.

Bei Angstpatienten, aber auch Depressionen und somatoformen Störungen, – das sind körperlich Beschwerden ohne erkennbaren somatischen Grund – er ist ja schließlich ein Angstpatient mit körperlichen Beschwerden, fürchten sie in den anderen, was längst schon in ihnen ist. Das macht sie wütend, gleichzeitig müssen sie die Wut unterdrücken, weil sie mit den anderen identifiziert sind, ihnen recht geben. Also haben sie vordringlich Angst vor ihrer eigenen Wut, die sie wiederum verdrängt haben, vor ihrem eigenen bösen Blick, den sie in die anderen hinein sehen. – kein Wunder, dass sie leicht kränkbar sind.

Da hat eine gewisse Tragkraft, sich selbst zu illusionieren, dass man eine glückliche Kindheit gehabt hat. Dann hat man eine gewisse Autonomie, und ist den Blicken der anderen nicht mehr so ausgeliefert. Dann sind die Mutter, der Vater, das Umfeld, und er selbst glücklich, aber leider auf einem sehr fragilen Niveau, nämlich die Realität war eine andere. Schließlich hat der Patient selbst an eine glückliche Kindheit geglaubt, an eine fürsorgliche Mutter, die immer nur das Beste für ihn wollte, nur der Vater war etwas streng mit seinen Anforderungen. Über allem schwebte der Vater mit seinem gestrengen Blick, ein Gottvater, den er in allen Vorgesetzten fürchtete und dagegen auf einer unbewußten Ebene opponiert. Er hat das Glück, dass er die Unterstützung der Kollegen erhält, wenn einmal die Chefs in den gemeinsamen Augen mal schief liegen.

Das ganze System war in ihm so fest verankert, dass er über 300 Stunden brauchte, um den Hinterrund zu realisieren und sich auf die Spur zu kommen. Meist dauern Therapien nicht so lange oder werden  aus Angst abgebrochen oder Patienten geben sich mit einigen Einsichten zufrieden. Er brauchte so lange, da ihm sämtliche Unterstützung fehlte, die Mutter mit ihrer Schwäche, damit ihrer Stärke, der Vater mit Strenge, einer Pseudostärke, aus der Schwäche geboren, und beide Eltern arbeiteten sozusagen Hand in Hand.
Jetzt kann er sogar sagen, wenn ich ihm sage, dass er nur an dem Vordergründigen, dem bösen Blick, misst, aber nicht den Hintergrund beachtet und erst recht nicht die Personen der Eltern, dass er soweit noch gar nicht ist.

Die Hintergründe der Eltern zu beachten, deren eigene Verinnerlichungen und deren Eltern, schafft Versöhnlichkeit. Man ist den Eltern nicht mehr so böse, der eigene böse Blick lässt nach, hat mehr Verständnis für andere. Denen geht es auch nicht viel anders als mir. Aber man muß sich von allem Bösen abgrenzen. Zu unterscheiden, wann bin ich es oder der Andere, ist manchmal schwer. Aber auch dann, wenn man mal fehl liegt, ist das menschlich, und der Mensch ist das höchste Wesen auf Erden.

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