Das WELTEXPRESS-Gespräch: Interview mit dem Musiker Nils Kercher

Der 1975 in Bonn geborene und auch dort lebende – falls er nicht gerade mal wieder unterwegs ist, wie etwa um die Jahreswende in Mali – hat sich auf die Musik der im westlichen Teil Westafrikas beheimateten Mandevölker und hier insbesonders auf die in der Republik Guinea spezialisiert. Er wurde bisher für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet: World Music Charts Europe 2009 (WMCE), Talent of the Month (Radio Groovalizacion, Europe) und Medientipp der Ausgabe April/Mai 2010 des “Prisma-Magazin”. Anlässlich dreier Konzerte, die Nils Kercher Ende 2011 zusammen mit der finnischen Musikerin und Tänzerin Kira Kaipainen und wechselnden weiteren MusikerInnen gab – das erste in Köln aus Solidariät mit dem Kölner Verein „Hilfe für Guinea e.V.“, zwei weitere kurz darauf im Konzertsaal des Beethovenhauses in Bonn –  befrage Lothar A. Heinrich den Musiker nach seinem Werdegang und der Bedeutung seiner Musik auch für ein deutsches Publikum. Die Musik Nils Kerchers und seiner Mitwirkenden ist in besonderem Maße gleichzeitig durch Zartheit und große Dynamik gekennzeichnet.

Schildern Sie bitte kurz Ihren musikalischen Werdegang.

Kercher: Als erstes Instrument begann ich mit sechs Jahren Geige zu spielen.
Ich spielte im Schulorchester und sang viele Jahre im Chor.
Im Alter von 13 Jahren hatte ich meine Eltern endlich überzeugt, mir auch Schlagzeugunterricht zu ermöglichen.
Zusätzlich zum klassischen Musizieren folgten daraufhin verschiedene Bandprojekte,
Später orientierte ich mich musikalisch immer mehr in Richtung des afrikanischen Kontinents und unternahm insgesamt sieben Studienreisen in drei verschiedene westafrikanische Länder, am intensivsten nach Guinea. Dort lernte ich zunächst die Djembé zu spielen, dann auch verschiedene Melodie-Instrumente und ein wenig traditionellen Gesang.
Mein erstes größeres Solokonzert mit eigenen Stücken, in denen ich all diese aufgenommenen Stilrichtungen kombinierte, fand 1997 statt.
Seitdem gebe ich Konzerte in verschiedenen Konstellationen mit anderen Musikern, wobei die musikalische Grundrichtung immer ähnlich geblieben ist.
1999 erschien meine erste CD „Rhythms of Silence“, 2004 ein Kurs zum Djembe-Spielen auf CD, 2009 das Album „Ancient Intimations“ und im Februar 2012 folgt ein Live-Album.
Seit 1999 spielt, singt und tanzt meine finnische Lebensgefährtin Kira Kaipainen bei fast jedem meiner Konzerte. Unser Zusammensein bildet also schon lange die Basis dieses Projektes. Ausser meiner ersten Studienreise haben wir alle Afrika-Reisen gemeinsam unternommen, sie hat dabei vor allem den traditionellen Tanz, aber auch das Balafonspielen und Singen gelernt.
Wir geben häufig Konzerte als Duo. Die Besetzung der anderen Musiker wird dem jeweiligen Rahmen angepasst und wechselt. Einige, mit denen wir schon seit längerem immer wieder zusammen arbeiten ist der finnische Percussionist Samuli Majamäki, der indische Bansurispieler Dinesh Mishra und die deutsche Cellistin Sue Schlotte, die mit ihrem sehr persönlichen Stil sehr gut mit den organischen und natürlichen Klängen der ethnischen Instrumente harmoniert.

Wann und warum hat sich Ihr Interesse für afrikanische Musik entwickelt und insbesondere solcher aus Guinea?

Kercher: Im Alter von 16 Jahren hat mich ein Konzert eines deutschen Multi-Instrumentalisten, der Ende der 80iger Jahre längere Zeit in Guinea verbracht hatte, so beeindruckt, dass ich die folgende Nacht vitalisiert wach lag. Es war wie ein Ruf, der in mir nachhallte und daraufhin kontaktierte ich ihn, um zu fragen, ob ich von ihm eine Djembé kaufen könne.
Die fast magische Kraft, die in dieser Musik für mich spürbar war und die aus einer Tiefe jenseits der Oberfläche hervorzusprudeln zu schien, war genau das, was ich unbewusst immer geahnt und gesucht hatte.
Dieser Musiker hatte ein bemerkenswertes Gespür entwickelt für die Nuancen, die nicht nur mit der technischen Seite des Spielens zu tun haben und etwas von dem eigentlichen Geist dieser Musik transportieren.
Als ich dann zum Aussuchen einer Trommel bei ihm war und wir ein wenig zusammen spielten, lud er mich ein, für ihn direkt am gleichen Tag bei einer Probe die Begleitung zu spielen. Kurz darauf folgten einige Konzerte, bei denen ich mitspielte.
Er war zuerst mein Lehrer und musikalisches Vorbild und später hatten wir ein gemeinsames Duo.
Mein Interesse an der westafrikanischen Musik wuchs und ich nahm gleichzeitig auch Unterricht bei einigen Djembé-Spielern aus Guinea und wirkte bei vielen Ihrer Workshops und Konzerte mit.
Während ich noch zur Schule ging, war diese Leidenschaft meine eigentliche Hauptbeschäftigung. Ich gab damals selbst auch Trommelunterricht und es war mir klar, dass ich nach dem Abitur direkt im Land selbst weiter lernen wollte.

Was ist das Spezifische an "afrikanischer" Musik, was das Besondere an Musik aus Guinea?

Kercher: Auch wenn es ja immense Unterschiede zwischen den einzelnen Gegenden Afrikas gibt, hat die Musik auf dem gesamten Kontinent für meine Wahrnehmung etwas sehr Körperliches und Sinnliches. Sie fliesst unproduziert und wird nicht mental konstruiert. Sie „grooved“ wie nichts anderes, was ich kenne. Alleine wenn die Kinder in Westafrika bei Ihren Spielen gemeinsam im Rhythmus klatschen und singen, grooved es so sehr, dass man kaum widerstehen kann, mitzumachen.
Vielleicht, weil die Musik so direkt der Lebendigkeit des Körpers entspringt und als ein Feld wahrgenommen wird, in das alle Anwesenden gemeinsam eintauchen, wird dabei intuitiv mehr dieser musikalischen Einheit gedient, von dem alle profitieren, als dass individuelle Leistungen und Konkurrenzen zu wichtig werden. In einer der Sprachen aus Westafrika sagt man nicht „die Musik klingt schön“ sondern „sie schmeckt schön“ – alleine das sagt schon viel darüber aus, wie Musik erfahren wird.
Da die afrikanische Musik – und traditionell ja das gesamte kulturelle Wissen – nicht über das Sehen vermittelt wird, wie fast immer bei uns über die Notenschrift, ist die Kapazität für das Zuhören viel intensiver ausgeprägt. Auch das kommt dem Zusammenspiel zugute.
Eine weitere wichtige Qualität, die ich in Westafrika kennen gelernt habe, ist die Fähigkeit der Musiker, wenig machen zu können. Auch technisch hoch virtuose Spieler können die einzelnen Töne atmen lassen, Raum erlauben für Wiederholungen und wohltuende Schlichtheit. Das ist bei uns oft anders, ich habe den Eindruck, dass dies auch an einer bestimmter Grundhaltung liegt, die in unserer Kultur schon früh anerzogen wird: das Prinzip der Leistung, d.h. der Wert des Einzelnen wird über seine Leistungen definiert und deshalb geraten wir so oft unter Druck, mehr zu produzieren als es vielleicht gerade natürlich wäre.
Von dieser inneren Sicherheit und dem Mut, sich zu erlauben, wenig zu machen, habe ich viel gelernt.

Unter  Freunden und Interessenten der sogenannten "Weltmusik" ist Musik aus Mali relativ gut bekannt. Mir scheint, dass es eine nähere Verwandschaft zwischen dieser und der Musik aus Guinea (etwa verglichen mit Musik aus Nigeria, aus Cameroun, dem Congo, aus Zimbabwe oder aus Südafrika) gibt. Was ist gleich, was unterschiedlich?

Kercher: Die Mandingo sind in Mali sowie in Guinea vertreten und Sprache und Musik haben viele Ähnlichkeiten. Früher gab es ein großes Mande-Reich, dass sich über mehrere Länder Westafrikas erstreckte und auch Mali und Guinea mit einschloss.
Die Tradition des Koraspiels und viele Rhythmen, Melodien und Gesänge sind in Guinea und Mali fast identisch. Die Interpretation und Spielweise fällt in beiden Ländern etwas anders aus.
In beiden Ländern leben jeweils noch andere Volksgruppen, gerade in Mali weiß ich nur wenig über deren Sprachen und Musik.
Die Wassolon-Musik, die beispielsweise durch Oumou Sangare bekannt geworden ist, hat einen ganz eigenen Charakter. Sie ist vor allem in Mali zu finden. Die Tonleiter dieser Stilrichtung ist pentatonisch aufgebaut.
Auch die sogenannte Griot – N ´Goni, eine Art Laute, wie der in den letzten Jahren erfolgreiche Bassekou Kouyate sie spielt, habe ich nur in Mali gehört.
Die komplexen Doun Doun Ba Rhythmen sind wiederum eine Spezialität der Trommel- und Tanzkultur Guineas, sie werden dort sehr virtuos gespielt.
Die Musik der Volksgruppen aus dem Regenwaldgebiet Guineas besitzt wieder eine ganz andere Klangfarbe.
Es gibt einen bestimmten „Guinea-Stil“ den ich meistens sofort erkenne. So lief z.B. letztens in einem Taxi hier in Bamako / Mali Musik und ich fragte den Fahrer sofort, ob sie aus Guinea kommen würde. Er bejahte erfreut, denn er selbst kam aus Guinea und ich fühlte mich fast ein bisschen an ein zweites Zuhause erinnert. Irgendwie ist Guinea mir mittlerweile schon vertraut und es gibt eine bestimmte strahlende, melodiöse Qualität in der Musik, die ich dort sehr schätze.
Eine Gemeinsamkeit zwischen der Musik aus Mali und Guinea ist die Berührung mit der arabischen Welt, die manchen Stücken ein eigenes Gewürz hinzufügt.

Natürlich ist auch Musik aus Guinea vielgestaltig. Ich erinnere mich aus den 60er, 70er Jahren an Gruppen wie "Bembeya Jazz National" oder an Künstler wie Kouyate Sory Kandia. Was ist das Besondere an Ihrer Musik?

Kercher: Ich kenne nur einige Aufnahmen von Kouyate Sory Kandia und darauf singt er wirklich schön und mit mitreissender Leidenschaft. Andere Gruppen aus dieser Zeit kenne ich nicht namentlich. Durch die Anbindung Guineas an die kommunistischen Länder zu dieser Zeit ist auch die damalige Musik geprägt worden. Gerade kubanische Einflüsse sind damals mit der traditionellen Musik vermischt worden. Aber dadurch, dass das Land bis in die achtziger Jahre für die westliche Welt nicht zugänglich war, ist auch der Reichtum der traditionellen Musik sehr gut erhalten geblieben. Der umstrittene langjährige Präsident Guineas, Sekou Touré, hat immerhin die traditionelle Musik und den Tanz bewusst gefördert.

Wie verbinden Sie afrikanische und speziell guineische Musik mit außerafrikanischer im Rahmen der sogenannten "Weltmusik"?

Kercher: Weil ich so viele unterschiedliche musikalische Eindrücke aufgenommen habe und keinen Anspruch habe, die Musik irgendeiner Tradition – sei es eine europäische oder  afrikanische – stilecht zu reproduzieren oder zu konservieren, kombiniere ich tatsächlich alles, was mir gefällt.
Alle musikalischen Einflüsse in mir suchen sich ihren eigenen Weg und manchmal inspiriert mich dabei meine Vorliebe für Afrika, dann wieder mein klassischer Hintergrund oder die Musik von Komponisten wie beispielsweise Arvo Pärt.
Die Stücke entstehen aus einem inneren Hören verschiedener Komponenten, die oberflächlich weit auseinander zu liegen scheinen, aber so höre ich sie.
Einmal fragte ich, was Kira einfallen würde zu einer Melodie. Daraufhin schrieb sie direkt den finnischen Text für Talven Syli auf einen Zettel, der zufällig herumlag. Dem Stück „Ah-Ye“ liegt ein frei erfundenesThema auf einer südafrikanischen Kalimba zugrunde, zu dem ich bei einer Testaufnahme mit meiner Violine verschiedene Melodien ausprobierte, bis daraus das Streicher – Arrangement entstand. Der Rhythmus der Basstrommeln basiert – wie bei vielen der Stücken – auf einem traditionellen Doun Doun Ba Rhythmus aus Guinea.
Bei der Entstehung des Stücks „Sacred Forest“ hatte ich beim Spielen von ausgehöhlten Baumstämmen aus der Regenwaldregion Guineas den Impuls, getragen, fast Choral-ähnlich dazu zu singen und das Ganze mit dem Klang der indischen Shrutibox zu untermalen.
Da ich als so förderlich für das Entstehen einer musikalischen Einheit empfinde, dass in Westafrika alles über das Hören vermittelt wird, arbeite ich normalerweise ohne Notenschrift.
Erst im letzten Sommer habe ich wieder Noten geschrieben, für ein finnisches Streichquartett, mit dem wir unsere Musik in der Kulturhauptstadt Europas (Turku, Finnland) aufgeführt haben. Nach fast 20 Jahren Abstand dazu, konnte ich dieses Medium wieder neu schätzen lernen.

Haben Sie in Guinea oder anderen Teilen Afrikas alleine oder mit Band Konzerte gegeben? Wie reagierte "das" afrikanische Publikum?

Kercher: Nein, ich würde mich sehr freuen, irgendwann dort zu spielen!
Das Stück „ I siga fe minde“ – auch in Kombination mit dem Musikvideo, welches in Guinea gedreht wurde –  hat einige positive Kommentare von Menschen, die aus Guinea und anderen westafrikanischen Ländern kommen, erhalten. Die meisten, die so etwas im Internet finden können und wollen, leben natürlich selbst im Ausland, da die Mehrzahl der Menschen dort von einem Internetzugang noch nicht einmal träumen könnten. Solche, die sich diese Technik leisten können, sind häufig eher an kommerziellerer moderner Musik interessiert.

Einige unserer Versionen von traditionellem Liedgut würden beim ersten Hören für die, die es aus dem traditionellen Kontext kennen, ungewohnt klingen. Eine etwas ältere und recht bekannte Tänzerin aus Guinea, die auch viel im Ausland auf Tournee gewesen ist, reagierte erfreut und fast überrascht, als sie die Musik hörte. Ihr gefielen die Arrangements und dass jemand etwas ganz eigenes daraus machte und klassische Instrumente wie Violine mit eingebaut hatte.
Wann immer ich aber beim Üben auf dem Innenhof, beim Spielen mit meinen Lehrern und vor allem beim Singen von den Menschen dort gehört wurde, kam mir eine sehr positive und erfreute Reaktion entgegen. Die Menschen fühlen sich, habe ich den Eindruck, in ihrer Kultur und Kunst gewürdigt und teilen sie gerne mit jemandem, der ernsthaftes Interesse daran zeigt. Beim gemeinsamen Musizieren ist es manchmal so, als hätte man eine Sprache gefunden, die auf tiefe Weise verbindet und eine Freude des gemeinsamen Mensch-Seins aufleuchten lässt. Häufig ist man danach nicht mehr der reiche „Weiße“ mit Kolonialhintergrund aus dem Ausland, sondern wird zu einem Mitmensch, der ganz anders spürbar geworden ist.
Bei unseren Konzerten in Europa freue ich mich immer sehr, wenn ein Afrikaner oder eine Afrikanerin anwesend ist und bis jetzt begegnete uns immer eine sehr schöne Offenheit von solchen eher seltenen Besuchern unserer Konzerte.

Ihre Musik hat durch die polyrhythmische Intensität, aber m.E. auch durch den warmen Klang der Instrumente (Holzplatten des Balafons, die heute mit Angelschnur und einst mit Saiten aus der Haut der weiblichen Antilop bespannten Kora, Holztrommeln mit Tierhaut bespannt) sowie den auf Ekstase – hier an und für sich der falsche Begriff, denn in Afrika handelt es sich genau genommen um "Enstase". L.A.H.] zielenden repetitiven Charakter melodischer Themen eine unmittelbare und tiefgehende körperliche Wirkung. Sehen Sie darin einen Beitrag zur Wiederbelebung der ursprünglichen somatischen Charakteristika von Musik, die in der abendländischen Musik einerseits durch die Kirche seit dem Mittelalter zurückgedrängt wurde, und der gleichzeitig in einem gewissen Gegensatz zur wachsenden Durchdringung der ganzen Welt durch die Abstraktheit des kapitalistischen "Wertes" steht? Oder anders ausgedrückt: ist sie ein Beitrag zur Verteidigung der Menschlichkeit und der Spiritualität gegen das Gesetz der Maschine und des Profits?

Kercher: Diese Frage fasst viel von dem in Worte, was Musik für mich bedeutet.
Gerade diese somatische Komponente suche in meiner Musik und ihr bin ich auch in Afrika immer wieder begegnet. Seit dem ich diesen, man könnte sagen „musikalischen Seins-Zustand“ kennen gelernt habe, habe ich kein Bedürfnis mehr, während des Musizierens irgend etwas anderes anzustreben, als diesen. Dann hat für mich Musik eine spirituelle Komponente, die weniger eine weltanschauliche Theorie, als eine im Körper erfahrbare Realität sein kann. Und das gibt der Musik einen Sinn, der tiefer geht, als nur die Summe der gespielten Töne. Eigentlich wird sie dann zum Werkzeug.

In vielen meiner Stücke wiederholen sich melodische und rhythmische Muster. Wer möchte, kann sich davon nach und nach tragen und tiefer nach Innen mitnehmen lassen, wie beim Prinzip der Spirale.

Man muss leider annehmen, dass die letzte „originale Musik“, die frei vom Einfluss der modernen Welt geblieben ist, sehr bald vollends verschwunden sein wird. Ich habe den Eindruck, dass etwas von der Essenz dieses in allen Kulturen vorhandenen „alten Wissens“  auf die oben beschriebene Weise auch heute weiterleben kann, wenngleich die Form sich vielleicht ändert. Dann macht es eigentlich keinen Unterschied, ob man nun als Urmensch am Feuer in einer Höhle oder in einem modernen Konzertsaal spielt. Darauf bezieht sich der Titel meines letzten Albums „Ancient Intimations“ was auf deutsch „Uralte Ahnungen“ bedeutet.

Welche Projekte verfolgen Sie aktuell und/oder in absehbarer Zeit?

Kercher: Gerade ist eine Live-CD fertig geworden, die im Februar herauskommen wird.
Ich habe schon viele neue Stücke und Ideen und hoffe, dass ich bald mit der Arbeit für das nächste Studio-Album beginnen kann.
Live-Konzerte mit verschiedenen Musiker/innen liegen mir am Herzen, weil ich den Kontakt und die Kommunikation mit dem Publikum sehr schätze.
Ich bin beim Schreiben gerade in Mali, und habe das Privileg, neue musikalische Eindrücke aufzunehmen. Es wird sich zeigen, was daraus neues wachsen wird.

Sie singen in afrikanischen Sprachen wie Soussou. Was ist der Inhalt Ihrer Stücke? Sind die Stücke im Wesentlichen Eigenkompositionen oder Bearbeitungen traditioneller guineischer Musik?

Kercher: Meine Stücke sind ungefähr zur Hälfte angelehnt an traditionelle Musik aus Westafrika, denen ich aber immer auch neue, eigene Sequenzen hinzufüge oder sie auf meine Art modifiziere. Wichtig ist mir, dass ich ein solches traditionelles Thema zu meinem eigenen machen kann, sodass es sich für mich natürlich und authentisch anfühlt.
Dabei singe ich die traditionellen Texte, oder manchmal nur Auszüge davon und manchmal auch leicht verändert, sodass ich dahinter stehen kann. So lag es mir z.B. fern, zu singen, dass ich mich dem großen Marabut von Kankan, der wohl zu seinen Lebzeiten ein sehr berühmter Mann gewesen war, anvertrauen würde. Da ich selbst keinen Bezug zu diesem Satz finden konnte und zu wenig darüber weiß, habe ich diesen Satz, der Teil eines der Stücke war, die ich bearbeitet habe, bei meiner Version gestrichen.

Die andere, vielleicht sogar etwas größere Hälfte meiner Stücke besteht aus Eigenkompositionen, die aber oft in Bezug auf Rhythmik, Instrumentierung und andere Charakteristika westafrikanische Elemente enthalten.
Eins unser Stücke mit finnischem Text, welches auf der nächsten CD erscheinen wird, handelt von der Kraft der Elemente und nimmt Bezug auf die beiden großen Tsunamis, die sich in den letzten Jahren ereigneten.
„Talven Syli“, das finnische Stück auf meinem letzten Album, singt von der Weite und Stille des skandinavischen Winters und der inneren Transformation, die dieser mit sich bringt.
Für eins meiner Lieder habe ich selbst einen Text auf Soussou geschrieben, für ein anderes auf Maninka, wobei es mir gar nicht darum ging, lyrische Kunstwerke zu erschaffen – das wäre mir auch mit meinem sehr begrenzten Wortschatz gar nicht möglich. Beide Stücke sind verschiedenen Menschen aus Guinea gewidmet und durch das Singen der Sprache, die sie selbst sprechen, fühle ich mich ganz anders mit ihnen verbunden. „I siga fe minde“ handelt von der bemerkenswerten Würde und strahlenden Lebensfreude der Menschen, die unter häufig harten Lebensbedingungen in einem Stadtteil Conakrys lebten, in dem ich 1994/95 längere Zeit gelebt hatte.

Beim Singen auf Soussou oder Maninka erinnere ich mich auch daran, welch eine Offenheit und Herzlichkeit mir immer wieder entgegen kam, sobald ich nur ein Wort auf der jeweiligen Sprache sagen konnte. Es bedeutet den Menschen dort wirklich viel, wenn ein Weißer sich bemüht, eine Sprache zu sprechen, die damals von den Kolonialherren als wertlos betrachtet wurde.  
Der Inhalt der traditionellen Texte steht für mich nicht im Vordergrund, sie handeln von verschiedenen Themen oder Geschichten, oft sind es Lebensweisheiten, wie beim Stück „Kaira“, was übersetzt „Frieden“ bedeutet. Darin heisst es beispielsweise in einem Satz übersetzt „Alles geschieht zu seiner Zeit“. Für mich haben diese Sprachen etwas musikalisches und unverbrauchtes und dadurch transportiert der Klang der Worte einen Inhalt, eine Atmosphäre, die jenseits der Übersetzung liegt. Auch singe ich gerade deshalb so gerne darauf, weil ich selbst, so wie die Zuhörer, nicht abgelenkt vom mentalen Umsetzen der Bedeutungen der Worte bin. Dadurch kann die Musik leichter unter der Oberfläche, mehr ganzheitlich und mit allen Sinnen, erlebt werden.

Zum Schluss: Wie sehen Ihre Pläne für das laufende Jahr aus?

Kercher: Die Planung der Konzerttermine in diesem Jahr wird demnächst fertig sein.  Fest stehen die nächsten Konzerte am 10.02. in Köln (Benefiz Konzert Lutherkirche), 11.02. in Kassel und am 17.03. im staatlichen Völkerkundemuseum in München. Aber auch in Berlin wird es Ende des Jahres wieder ein Konzert geben und im Sommer planen wir einige Veranstaltungen in Schweden und Finnland. Zudem sind wir gerade in Gesprächen für Konzerte in Erfurt, Chemnitz, Leipzig, Eisenach und Hamburg.
Da ich bald eine neue CD einspielen möchte, werden wir in diesem Jahr etwas weniger unterwegs sein, um die Zeit für die Studioarbeit freizuhalten. Genaueres kann stets auf meiner Homepage http://www.nilskercher.com gefunden werden.

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