Das Verschwinden nach dem Verschwinden – Stefan Bachmanns Inszenierung „Die Beteiligten“ von Kathrin Röggla beim Theatertreffen

In Kathrin Rögglas Stück geht es um Natascha Kampusch, die junge Österreicherin, die als 10jähriges Mädchen entführt worden war und nach mehr als achtjähriger Gefangenschaft ihrem Peiniger entfliehen konnte. Sie selbst taucht als Rolle im Stück nicht auf, nicht einmal ihr Name wird genannt.
 
Auf der Bühne agieren sechs Personen: Der Quasifreund, der Möchtegern-Journalist, die Pseudopsychologin, die Irgendwie-Nachbarin, die „optimale“ 14-jährige und das gefallene Nachwuchstalent. Sie haben Natascha Kampusch vereinnahmt, ihre Hoffnungen und Wünsche auf die junge Frau übertragen. Diese „Beteiligten“ formulieren indiskrete Fragen, Unterstellungen und Vorwürfe. Wenn sie ’ich’ sagen , ist das jedoch nicht ihr eigenes Ich, sondern das von Natascha Kampusch, die im Konjunktiv wiedergibt, was über sie gesagt wurde. So verkündet der Möchtegern-Journalist: „er könne nur sagen, ich sei ja ein alptraum, aus dem man erwachen wolle.“
 
Die Beteiligten sind ’er’ oder ’sie’ in der Wiedergabe, häufig aber auch ’man’. Vor allem die Irgendwie-Nachbarin verleiht ihren bösartigen Bemerkungen auf diese Weise gern Allgemeingültigkeit: „was heiße hier hexenjagd? man werde doch noch zweifel äußern dürfen?“ oder : „man werde doch noch mal seine meinung äußern dürfen.“
 
Die wunderbare Barbara Petritsch ist diese Irgendwie-Nachbarin. In einem Prolog erzählt sie das Märchen von Rotkäppchen, das Stefan Bachmann dem Stück hinzugefügt hat. Barbara Petritsch lässt das Märchen schauerlich lebendig werden in der typischen Erwachsenendiktion, die Kinder in lähmende Angst versetzt und sie zu gefügigen Untertanen der Großen macht, die über das Grauen berichten und somit vorgeben, es auch beherrschen zu können.
 
Im Verlauf des Stücks taucht das Rotkäppchen-Motiv ein weiteres Mal auf.: Hinter dem dunklen Fenster in einer Mietskaserne zeichnet sich der Schatten des Quasifreunds (Jörg Ratjen) ab. Mit technisch verzerrter Stimme berichtet das Ich über seine Gefangenschaft im Bauch des Wolfs.
 
Das unfassbare Grauen dieser Einkerkerung lässt Bühnenbildner Jörg Kiefel auch durch den fensterlosen, halb verfallenen Keller spürbar werden, in dem Simon Kirsch  (Das gefallene Nachwuchstalent) mit dem Falco-Song „Jeanny“ den Triumph des Bösen über das ohnmächtige Opfer feiert.
 
Stefan Bachmanns Inszenierung ist leise, unaufdringlich, ganz auf die kunstvoll kombinierten Stück-Dialoge konzentriert, die durch das hervorragende Ensemble des Wiener Burgtheaters als eindringliches Spiel der Stimmen lebendig werden.
 
Das Publikum wird nicht direkt einbezogen. So ist es möglich, sich im Sessel zurückzulehnen und distanziert den sensationslüsternen Personen auf der Bühne zuzusehen: Dem von Neid auf den neuen Medienstar zerfressenen, gefallenen Nachwuchstalent, das sich, angesichts der Konkurrentin, sadistischen Phantasien hingibt. Simon Kirsch posiert auch, süffisant lächelnd, als elegant tanzender SS-Offizier, der dann siegreich in den Himmel schwebt, und er synchronisiert genüsslich das verzweifelte, erschöpfte Keuchen des unsichtbaren Opfers bei seiner Flucht durch den Wald.
 
Zunehmend frustriert sind der Möchtegern-Journalist (Peter Knaack), dem es nicht gelingt, das Opfer zur Preisgabe intimer Details zu bewegen, mit deren Veröffentlichung er Karriere machen könnte, ebenso wie die Pseudopsychologin (Alexandra Henkel), die mit ihrer  Einfühlsamkeit  dem Opfer nicht näher kommt und schließlich giftig konstatiert: „also gewisse leute sollten bloß aufpassen, dass man nicht in eine opfersehnsucht gerate, das sei auch wieder nicht gesund, das spreche ja bände, was für vorbilder manche sich nähmen.“
 
Einen völligen Identitätsverlust erleidet Katharina Schmalenberg als „optimale“ 14-jährige. Sie verirrt sich in ihrer ehrlichen Anteilnahme, lässt sich überwältigen, nicht nur vom Schicksal dieses einen Opfers, sondern von allen, in den Medien aufbereiteten, ähnlichen Schicksalen.
 
Die übrigen Beteiligten haben inzwischen genug von der Auseinandersetzung mit der Medienfigur, die schließlich nichts mehr hergibt. Anfänglich haben sie sich mit weißblonden Perücken im Natascha-Kampusch-Outfit präsentiert. (Kostüme Esther Geremus). Im Prozess der Einverleibung und Ausschlachtung des Sensationsschicksals haben die Beteiligten sich zugleich selbst entblößt. So sind sie am Ende in Ganzkörper-Nacktkostümen zu sehen.
 
Der Rausch ist vorbei. Die zuvor Begehrte wird als Betrügerin beschimpft, erschlagen und verbuddelt. Den wirklichen, schon die ganze Zeit über nicht vorhandenen, Star ersetzt dabei die zum Opfersymbol gewordene „optimale“ 14-jährige. Die aber setzt der Vernichtungsphantasie einen kindlichen Wunschtraum entgegen: Sie steht wieder auf, metzelt sämtliche Beteiligte mit dem Schwert nieder und wird dann von einem riesigen, kitschigen Troll davongetragen.
 
Bei genauem Hinsehen und –hören sind die Beteiligten keine skurrilen Ausnahmeerscheinungen. Das Interesse an einem außergewöhnlichen Schicksal ist schließlich etwas Allgemeinmenschliches wie auch das Bedürfnis, das über das Verständliche Hinausgehende doch zu begreifen und dabei, in unabsichtlicher Rücksichtslosigkeit, detaillierte Auskünfte zu fordern.
 
Kathrin Röggla hat mit ihrem Stück das ganz normale KonsumentInnenverhalten thematisiert, und Stefan Bachmann hat es in seiner einfühlsamen, intelligenten Inszenierung mit einem wunderbaren Schauspielensemble auf die Bühne gebracht. So ist es auch eine respektvolle Verneigung vor der wirklichen Natascha Kampusch mit ihrer mutigen Weigerung, sich als Opfer zu präsentieren.

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