Das Meer und der Fluss

Die beiden Statements scheinen dieselben zu sein, nur dass der Name des Landes sich verändert.

Aber wenn man sie sehr aufmerksam liest, gibt es einen geringfügigen Unterschied. Die Richtung.

Vom Meer bis zum Fluss – vom Fluss bis zum Meer.

Darin liegt viel mehr Bedeutung, als man auf den ersten Blick denkt. Es zeigt, wie der Sprecher sich selbst sieht – ob er vom Osten oder vom Westen kommt.

Wenn man sagt „vom Fluss bis zum Meer“ sieht man sich selbst zur weiten Region gehörig, die der Westen „Naher (bzw. Mittlerer) Osten“ nennt und der ein vitaler Teil des asiatischen Kontinents ist. Der Terminus „Mittlerer Osten“ ist schon für sich ein herablassender Ausdruck mit kolonialem Unterton – er bedeutet, dass das Gebiet keine unabhängige Stellung hat. Es besteht nur in Beziehung zu einem weit entfernten Weltzentrum – Berlin? London? Washington?

Wenn einer aber sagt „Vom Meer bis zum Fluss“, sieht er sich selbst als jemand, der vom Westen kommt und der als Brückenkopf des Westens hier lebt und einem fremden, wahrscheinlich feindseligen Kontinent gegenübersteht.

In seiner langen aufgezeichneten Geschichte – die einige Tausend Jahre zurückgeht, hat dieses Land – ob Kanaan, Palästina oder Eretz Israel – viele Wellen von Invasoren gesehen, die sich hier ansiedelten.

Die meisten dieser Wellen kamen vom Hinterland: die Kanaaniter, die Aramäer, die Hebräer, die Araber und viele andere kamen vom Osten. Sie siedelten hier, vermischten sich mit der vorhandenen Bevölkerung und waren bald absorbiert und schufen so neue Mischungen und gingen natürliche Beziehungen mit den benachbarten Ländern ein. Sie kämpften Kriege, machten Frieden, prosperierten und litten in Zeiten der Trockenheit.

Die alten israelitischen Königreiche (nicht die mythischen von Saul, David und Salomo, sondern das wirkliche von Ahab und seinen Nachfolgern) wurden ein natürlicher Teil seiner Umgebung, wie es von zeitgenössischen assyrischen und andern Dokumenten bezeugt/ bestätigt wird.

So waren die arabischen Eindringlinge im 7. Jahrhundert. Sie siedelten sich unter den Einheimischen an. Diese konvertierten sehr langsam vom Judentum und Christentum zum Islam, nahmen die arabische Sprache an und wurden „Araber“, so wie die Kanaaniter vor ihnen „Israeliten“ wurden.

Ganz anders war der Weg jener Invasoren, die aus dem Westen kamen.

Das waren vor allem drei Wellen: Die Philister in der Antike, die Kreuzfahrer im Mittelalter und die Zionisten in der modernen Zeit.

Indem sie vom Westen kommen (oder sogar übers Land wie die ersten Kreuzfahrer), sehen die Invasoren einen weiten feindlichen Kontinent vor sich. Sie bleiben im Küstengebiet hängen, errichten dort einen Brückenkopf und schreiten landeinwärts, um ihn zu vergrößern. Bezeichnenderweise setzt keiner der westlichen Invasoren jemals Grenzen fest – sie marschierten landeinwärts oder zogen sich zurück, wie es ihre Kräfte und die Umstände erlaubten.

Dieses historische Bild passt natürlich nur für jene Invasoren, die kamen und im Lande siedelten. Es betrifft nicht die Imperien, die einfielen, um nur das Gebiet zu kontrollieren. Diese kamen aus allen Richtungen und bewegten sich weiter – Hetiter, Ägypter und Babylonier, Perser und Griechen, Römer und Byzantiner, Araber und Mongolen, Türken und Engländer. (Die Mongolen kamen hierher, nachdem sie den Irak zerstört hatten, und wurden vom muslimischen General Bybars (dem Nachkommen Saladins in einer der entscheidendsten Schlachten der Geschichte geschlagen.)

Östliche Mächte zogen gewöhnlich weiter durch Ägypten in den Westen und machten Nordafrika zu einer semitischen Zone. Westliche Reiche wanderten weiter gen Osten nach Indien.

Tutmosis, Cyros, Alexander, Caesar, Napoleon und viele andere kamen vorbei und hinterließen – außer ein paar Ruinen – keine dauerhaften Spuren zurück.

Wie ihre Vorgänger, die aus dem Westen kamen, hatten die Zionisten von Anfang an eine Brückenbau-Mentalität und haben dies bis heute.

Tatsächlich hatten sie diese sogar schon, bevor die zionistische Bewegung offiziell gegründet wurde. In seinem kanonischen Buch „Der Judenstaat“ schrieb Theodor Herzl, der Visionär – sein Foto hängt im Knesset-Plenum – dass der zukünftige jüdische Staat ein Stück des „Walles gegen Asien“ bilden werde. Er würde den „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei“ besorgen.

Nicht nur Kultur, sondern DIE KULTUR. Und nicht nur Barbarei, sondern Die BARBAREI. Ein Leser der Zeit um 1890 brauchte keine Erklärung. Kultur war weiß und europäisch – Barbarei war alles andere, ob braun, rot, schwarz oder gelb.

Im heutigen Israel, fünf Generationen später, hat sich die Mentalität nicht verändert. Ehud Barak prägte den Satz, der diese Mentalität mehr als jeder andere Satz reflektiert: „Wir sind eine Villa im Dschungel.“

Die Villa: die Kultur, die Zivilisation, die Ordnung, der Westen, Europa. Der Dschungel: Barbarei, die arabisch-muslimische Welt, die uns umgibt, ein Ort voll wilder Tiere, wo jeden Augenblick etwas passieren kann.

Diese Phrase wird endlos wiederholt und praktisch von jedem akzeptiert. Politiker und Armeeoffiziere ersetzen dies mit „Nachbarschaft“ („Shehuna“). Tägliche Beispiele: „In der Nachbarschaft, in der wir leben, können wir uns nicht einen Augenblick entspannen“. Oder: „In der Nachbarschaft, in der wir leben, benötigen wir die Atombombe“.

Moshe Dayan, der eine poetische Ader hatte, sagte vor zwei Generationen in der wichtigsten Rede seines Lebens: „Wir sind eine Generation von Siedlern, und ohne Stahlhelm und Kanone können wir keinen Baum pflanzen noch ein Haus bauen ”¦ dies ist das Schicksal unserer Generation, die Entscheidung unseres Lebens – vorbereitet und bewaffnet zu sein und stark und zäh oder anders ausgedrückt: denn sonst fällt uns das Schwert aus unserer Faust und unser Leben wird ausgelöscht“. In einer anderem Rede – ein paar Jahre später – sagte Dayan es deutlicher, dass er nicht nur eine Generation meint – sondern alle, die noch kommen – die typische Brückenkopfmentalität, die keine Grenzen kennt, weder räumlich noch zeitlich.

(Nur gerade eine persönliche Bemerkung: vor 65 Jahren , ein Jahr vor der Gründung Israels, veröffentlichte ich ein Broschüre, die mit folgenden Worten begann: „Als unsere zionistischen Väter entschieden, ein nationales Heim in diesem Lande aufzubauen, hatten sie die Wahl zwischen zwei Richtungen: Sie konnten als Brückenkopf der „weißen Rasse“ kommen und die Herren der „Eingeborenen“ werden oder Erben der semitischen, politischen und kulturellen Tradition sein und den Befreiungskrieg der semitischen Völker gegen die europäische Ausbeutung führen”¦“)

Der Unterschied zwischen „ Meer bis zum Fluss“ und „Fluss bis zum Meer“ ist nicht nur politisch und schon gar nicht oberflächlich. Er geht direkt an die Wurzeln des Konflikts.

Zurück zu Meshal. Seine Rede war eine Wiederholung der extremsten palästinensischen Linie. Dieselben Worte hätten vor 70 Jahren vom damaligen Führer Haj Amin Al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, ausgesprochen werden können. Es ist die Linie, die in die Hände der Zionisten spielte und das palästinensische Volk in die Katastrophe führte, in unseliges Leiden und in seine gegenwärtige Situation.

Zum Teil muss der arabischen Sprache die Schuld gegeben werden. Es ist eine wunderschöne Sprache, die ihren Redner leicht berauschen kann. Die moderne arabische Geschichte ist voll wunderbarer Redner, die von ihren eigenen Worten so berauscht waren, dass sie leicht den Kontakt zur Realität verloren.

Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als der ägyptische Präsident Gamal Abdel-Nasser, ein hervorragender Redner und Idol der arabischen Massen, eine sensible Rede über ägyptische Angelegenheiten hielt, als jemand aus der Menge schrie: “Palästina, oh Gamal!“

Nasser vergaß, worüber er redete, und begann eine leidenschaftliche Darlegung über die palästinensische Sache, steigerte sich immer mehr hinein, bis er offensichtlich in einem trance-artigen Zustand war. Es war die Geistesverfassung, die ihn 1967 in die israelische Falle führte. (Die israelischen Politiker sind seit Menachem Begin zum Glück sehr schlechte Redner, da sie schlechtes Hebräisch reden.)

Man könnte natürlich sagen, dass Meshals Rede vor den Massen in Gaza nur gerade der Versuch eines Politikers war, Popularität zu gewinnen und die nicht wirklich zählte – was zählt, ist, was er hinter den Kulissen in Ägypten und Gaza adoptierte. Das könnte vernünftig klingen – ist es aber nicht.

Als erstes, weil Reden den Sprecher beeinflussen. Es ist sehr schwierig für ihn, sich selbst aus der verbalen Falle zu ziehen, die er sich selbst gestellt hat, auch wenn arabische Zuhörer gelernt haben, solche Reden nicht für bare Münze zu nehmen.

Zweitens, weil extreme arabische Reden in den Händen israelischer Extremisten sofort zu Munition werden . Sie verstärken die allgemeine Behauptung, wie z.B. Ehud Baraks Wort, dass „wir keine Partner für Frieden haben.“ Meshals Spiegelbild Avigdor Lieberman hat diese Rede als Hauptwaffe benützt, um die europäische Verurteilung von Netanyahus neuem destruktivem Siedlungsprojekt zurückzuschlagen.

In Wirklichkeit ist Meshal jetzt mehr denn je für Kompromisse bereit (wie auch Nasser, als er die erwähnte Rede hielt). Er hat erklärt, dass er, wenn auch noch nicht selbst zum Frieden machen mit Israel bereit, er einen Frieden akzeptieren würde, der von Mahmoud Abbas unterzeichnet und in einem palästinensischen Referendum ratifiziert würde. Er deutete auch an, dass solch ein Frieden sich auf die Grenzen von 1967 gründen solle, Er sagte auch, dass Abbas für eine „vereinbarte“ Lösung für das Flüchtlingsproblem bereit ist – im Einverständnis mit Israel. Dies bedeutet, dass nur einer symbolischen Anzahl erlaubt wird, auf israelisches Territorium zurückzukehren.

Beunruhigend ist, dass Meshal in seiner aufregenden Rede das Gegenteil sagte und noch Schlimmeres. Das tat auch Nasser – das brachte ihm den Tod. Am Anfang tat dies auch Yasser Arafat, bis er die Torheit dieser Methode einsah. Ich denke, Khaled Meshal wird dies zu gegebener Zeit auch einsehen.

Es gibt keine Flucht vor der einfachen Wahrheit, dass es zwei Staaten zwischen dem Fluss und dem Meer geben wird – als auch zwischen dem Meer und dem Fluss.

Es sei denn, dass wir das ganze Land wünschen – vom Meer bis zum Fluss, vom Fluss bis zum Meer – das dann zu einem großen Friedhof würde.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 28.12.2012. Alle Rechte beim Autor.

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