Das Lied vom Tun und Lassen – Der neue Roman von Jan Böttcher ist ein bestrickend melancholischer Song aus drei Mündern

Im Wasser unser. Singt Jan Böttcher, wenn der neugierige Leser seinen Rat am Ende des Romans befolgt und auf der Website www.janboettcher.com den Song Fünfzehn anklickt. Auf der Homepage des Autors und Sängers finden sich sieben Lieder zum Roman, mit Seitenangaben, denn die Texte sind auf eben jenen Seiten in voller Länge abgedruckt. Wenn Sie mir folgen mögen, hören Sie als Einstieg das Lied Fünfzehn, es ist der einzige Solo-Song der Romanfigur Clarissa, die ein Band-Tagebuch führt und von einem Auftritt in Frankreich berichtet, auf dem sie dieses Lied verhauen hat, den Ton mittendrin absetzte. Jan Böttcher singt das Lied getragen, balladesk, mit Pausen, die den Sinn ambivalent verzaubern. Zum Beispiel: „Im Wasser unser“ – Pause – „kurzes Atmen“.

Seit seiner letzten Romanveröffentlichung „Nachglühen“ sind drei Jahre vergangen. Darin hatte er sich außerordentlich feinfühlig in die Situation einer Dorfgemeinschaft an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze eingefühlt, jetzt wagt sich der Autor weiter zurück und hinein, näher an Liedgut und Kindheit. Keines seiner Bücher war bisher so eng mit der Musik verknüpft und keines spielte in der Schulzeit. Irgendwo in der (westdeutschen) Provinz gibt es ein Dorf, einen Fluss, eine Kleinstadt, einen Milchkonzern und ein Gymnasium. In drei Teilen beobachtet der Autor drei Figuren jeweils etwa 100 Seiten lang sich über wenige Monate. Aus Sicht der einzelnen Figur werden auf diese Weise andere Akzente im gleichen Geschehen hervorgehoben. Ein wunderbarer Trick, der somit die Wahrhaftigkeit des vorher Erzählten in Frage stellt. Da wird zunächst Immanuel Mauss eingeführt, ein Musiklehrer mit dreißig Jahren Berufserfahrung, verwitwet und verdammt jugendlich. Wir haben Sommerferien. Ein Mädchen taucht auf, ein Mann denkt nach über sich. Mauss ist Motor und Auffangbecken zugleich für die Jugendlichen, die ihn in ihr Erwachsenwerden und ihr Leid einbeziehen. Bereits nach wenigen Seiten wird das Furchtbare erwähnt; als Mauss mit seiner verstorbenen Frau kommuniziert: „Und so wusste auch Marianne, dass am 14. Dezember ein junger Mensch gestorben war, zum ersten Mal in meinen dreißig Lehrjahren hatte sich ein Mädchen, das ich unterrichtete, das Leben genommen. Eine frische Wunde, so groß wie unsere leerstehende Küche, du hast ja Recht, meine Liebe, größer noch, groß wie unser Garten”¦“

Wie dieser Mann mit anderen umgeht, ob gestorben oder noch sehr lebendig, ist wunderbar und zart beschrieben. So einen Lehrer wünscht man sich gehabt zu haben, oder den eigenen Kindern! Mauss stellt sich in den Pausen zu seinen Lieblingsschülern, die er sich jedoch niemals selbst aussucht, sie finden ihn, er hat ein Backhaus mit einer Riesen-Plattensammlung und freiem Zugang, einen Laptop, baut seit acht Jahren an einer Laute und macht Radtouren durchs verregnete England, anstatt die Kids mit Museumsbesuchen zu quälen. Er hört zu, probiert aus, weiß selbst nicht, wo es langgeht und wie man umgehen soll, mit dem Tod. Mit dem Verschwinden seiner Frau, seiner Jugend und dieses Mädchens.

Jan Böttcher gelingt das seltene Kunststück, uns nach dem Vertraut-Werden mit dem Lehrer Immanuel Mauss nicht aus dem Sog der Sympathie, die sich entwickelt hat, hinauszuwerfen. Er springt im zweiten und dann im dritten Teil seines Liedes vom Tun und Lassen (ein herrlicher Titel!) auf jüngere Protagonisten über, glaubhaft! Da ist der 20 Jahre jüngere Schulgutachter Johannes Engler und schließlich das Mädchen Clarissa, die durch eben jene Monate und Zeiten begleitet werden, die Mauss bereits durchlebt hat. Alle drei erscheinen in allen drei Teilen, werden sehr anders beschrieben und wahrgenommen und sind doch sie selbst. Obwohl Böttcher seine Geschichte in die heutige Zeit legt, es gibt I-Pods, Laptops, web-Blogs etc, ist seine Fabel zeitlos und zutiefst humanistisch. Wann vernachlässigen wir den, der neben uns lebt? Was bleibt, wenn ein Mensch gegangen ist? Was bewirkt unser Tun oder Lassen?

Der 1973 in Lüneburg geborene, fußballtretende Autor und Liedermacher erfindet im vorliegenden Buch ganz nebenbei einen novellesken Roadmovie (den Clarissa im Band-Blog beschreibt), der für sich ein kleines Kunstwerk darstellt. Da zieht eine kleine, ständig wachsende Schar von schrägen Musikfreunden durch südeuropäische Berglandschaften, nebst Pferdekarren und Instrumenten. Nicht zuletzt in diesen Beschreibungen beweist Jan Böttcher seine Kunst, sich vollkommen einzufühlen in jede seiner Figuren, Poesie aus dem naheliegenden zu schöpfen und zu zeichnen. Zu Träumen zu vertäuen.
Angesichts der Ausgewogenheit seines feinen Stils und der Brisanz seiner Themen (u.a. Mobbing, Teenager-Suizid) verwundert die Ignoranz, die ihm vom Feuilleton und den Buch-Preisverleihern entgegengebracht wird. Wacht auf, ihr Juroren! Hier gilt es eine gefestigte Stimme mit ganz eigener Melodie zu würdigen, die nicht länger überhört werden darf.

Ein letztes Zitat sei gestattet; aus dem (eventuell fiktiven) Band-Blog Clarissas, bevor zum Termin getrommelt wird: „Wir fuhren parallel zum Strand, ein Stück hinter der Küstenlinie. Die Landschaft hat sich unter unseren Gedanken verändert, und einmal sah man, wie sich die Küste weit über das Meer erhob. Wir auf einem Felsen in der Sonne. Unten das Wellenorchester. Jede Gischt ein Tusch. Heute sind wir neun Freunde, morgen werden wir zehn sein oder zwölf. Die Wolken sind so schnell, Licht auf unserer Haut, der Sommer, die Helligkeit und alles dreht sich.“

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Buchpräsentation und Konzert am Miittwoch, 19.10.2011, 20.30 Uhr
Literarisches Colloquium Berlin außer Haus HBC, Karl-Liebknecht-Straße 9, Berlin-Mitte Moderation: Patrick Hutsch

Jan Böttcher, Das Lied vom Tun und Lassen, Roman, 316 Seiten, Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, September 2011, 19,95 €

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