Der skurrile Humor des Alltags an der Autobahn weicht einem schleichenden Schrecken. Nach Fertigstellung der Fahrbahn malt sich Julien Kriegsbemalung mit der Fahrbahnkreide ins Gesicht: der Kampf hat begonnen. Die erwachsenen Tochter Judith liegt knapp bekleidet im Liegestuhl, als würde sie warten, dass sie einer mitnimmt. Bis es geschieht. Die Ohrschützer dämmen nicht nur den unerträglichen Fahrlärm, sondern die Kommunikation der Familienmitglieder untereinander. Gegen stressbedingte Schlaflosigkeit sollen Tabletten helfen. Betäubt taumeln Eltern und Kinder durch die Behausung. Um sich endgültig abzuschotten, baut Michel schließlich eine Mauer. My home is my castle. Hier ist längst klar, das “Home” keine Komödie ist. Schleichend überschreitet die Familie die Grenze vom “So kann man auch leben” zu “Wie kann man nur so leben?”. Eine Art kollektiver Wahnsinn entspinnt sich. Irgendwann kriechen Fliegen zwischen Bauschutt und Essensresten und die Kinder steigen in Unterwäsche oder Badekleidung durch sich häufenden Abfall. Die Enge wird wortwörtlich erstickend. Den Ausweg hat die Familie eigenhändig verbarrikadiert. Dass eine Mauer praktisch errichtet wird, ist die drastische Visualisierung der Trennwand, welche bereits zwischen dem Familienalltag und der Norm existierte.
Eine Grenze nach der anderen überschreiten die Hausbewohner. Zuerst ist es die Autobahn, welche dieses Zuhause von der Normalität trennt. In scheinbar beiläufigen Momenten lässt Regisseurin Meier die Extremsituation der Familie anklingen. Stets werden die gleichen Kleider getragen, Restwaren, denn für die richtige Größe reicht das Geld nicht. Der unbefangene Umgang der Eltern mit ihren Kindern kaschiert kaum ihre Verantwortungslosigkeit und Vernachlässigung. Die Kinder essen Schokoriegel auf Brot oder kalte Konserven, ständig müssen sie die gefährliche Autobahn überqueren, Kontakte haben sie kaum. Die mathematische Begabung der jüngeren Tochter ignorieren die Eltern, genauso deren Ablehnung ihres eigenen Körpers. Was oberflächlich als Vertrautheit der Familienmitglieder erscheint, ist ein extremer Mangel an Privatsphäre. Nicht einmal im Badezimmer oder im Bett sind die Familienmitglieder für sich. Dass ihre Kinder auf diese Weise nicht gesund aufwachsen können, ist den Eltern gleichgültig. Die erwachsene Tochter liegt Tag für Tag sich sonnend im Liegestuhl, geschminkt im Bikini, als würde sie warten, auf irgendwen, irgendwas. Eines Tages ist sie fort, geflohen aus der Perspektivlosigkeit. Eine Zukunft existiert für die Kinder nicht. Auf sie wartet die Randexistenz ihrer Eltern. Ohne sich dessen bewusst zu sein, schottet sich die Familie immer weiter ab. Das Haus wird zum Käfig, in dem sich die Bewohner zur selbstauferlegter Schutzhaft einmauern.
“Home” erzählt nicht die Mär von “Zu Hause ist es am Schönsten”. Das titelgebende “Home” ist die letzte Zuflucht der über den sozialen Rand geglittenen Familie. Nicht aus Anhänglichkeit verharren sie in ihrem schier unbewohnbar gewordenen Haus, sondern weil sie nirgendwo hinkönnen. Ursula Meiers aufrüttelndes Drama rührt an einen der unangenehmsten Aspekte der städtischen Verarmung: das Leben in selbsterrichteten Notunterkünften. In Los Angeles sorgten die an die 30er Jahre erinnernden Zeltstädte erst kürzlich für Schlagzeilen. Es sind keine “Asozialen”, welche hier siedeln, sondern Familien und Berufstätige, welche ihre Miete nicht mehr zahlen können. Sie hoffen, irgendwann wieder in die normale Gesellschaft zurückzukehren, mit fließendem warmen Wasser, Sanitäranlagen und einer Heizung. Im Vergleich zu ihnen lebt die französische Familie des Films luxuriös in ihrem “Home”. Bezwungen wird sie nicht von einem mächtigen Straßenbaukonzern oder staatlichen Ordnungsbehörden, sondern ihrer eigenen Haltlosigkeit. Lustig sieht der Balanceakt am gesellschaftlichen Rand nur aus der Distanz aus. Ursula Meier geht ganz dicht heran, im doppelten Sinne in das “Home” ihrer Figuren. Sie verdammt nicht, noch ergeht sie sich in herablassendem Mitleid. Ihr Blick in “Home” ist nicht der voyeuristische in Nachbars Wohnzimmer, sonder nüchtern dokumentarisch. Das “Home” des Titels enthüllt sich als Illusion. Verloren hatte die Familie ihr “Heim”, wenn sie denn überhaupt eines hatte, als sie in das Haus am Autobahndamm einzog. “Home” ist beklemmend und traurig aktuell. Ein Teil der Kinobesucher geht nach dem Kinobesuch in die Notunterkunft, ins Wohnheim oder schläft im Auto. Noch heißt so etwas “Schwarzcampen”. In L.A. heißt es mittlerweile Zeltstadt.
Titel: Home
Start: 25. Juni
Regie und Drehbuch: Ursula Meier
Darsteller: Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, Kacey Mottet Klein, Madeleine Budd
Verleih: Arsenal