In ihrem neuen Stück „Narbengelände“, bei dem Anne Habermehl erstmals auch Regie geführt hat, geht es um die Auswirkungen der Wende auf eine kleine Familie, die Pech hat mit der neuen Freiheit. Papa (Peter Prautsch) verliert seine Arbeit und seine Wohnung, aber weggehen, einen neuen Anfang wagen, kommt für ihn nicht in Frage. Er verkriecht sich in seine Steinsammlung und schreibt in der Kneipe Briefe an seine Tochter Marie. Abschicken kann er die Briefe nicht, denn Marie ist weggegangen und hat den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, nicht einmal ihre neue Adresse hat sie ihnen mitgeteilt.
Mutter Ingrid (Ursula Staack) steckt voller unterdrückter Lebenslust, sucht neue Wege im Internet und verschafft sich durch das Verfassen von SMS-Pornos einen kleinen Nebenverdienst, wovon ihr Mann selbstverständlich nichts wissen darf.
Marie (Alice von Lindenau), die junge Frau, die so viele Träume und Sehnsüchte hatte, die nachts in den Wald ging, um mit einem Fernrohr die Sterne zu betrachten und sich am Erlebnis des Alls zu berauschen, ist auf der Flucht vor ihrer Verzweiflung und ihren Schuldgefühlen.
Kurz vor dem Mauerfall hat Marie im Wald Marc (Matthias Ransberger) getroffen, einen einarmigen jungen Mann, der immer rennt, weil er weg will aus der Enge. Die Beiden verlieben sich in einander, und Marie erklärt sich bereit, mit Marc in den Westen zu fliehen. Doch dann erscheint Marie nicht zur vereinbarten Zeit. Marc geht allein, und wird an der Grenze erschossen.
Anne Habermehl hat sehr pointierte Dialoge in einer kargen Sprache geschaffen. Die Personen des Stücks reden wenig, und aus Unsicherheit verschweigen sie vieles, das ihnen eigentlich am Herzen liegt. Das Ungesagte zeigt sich in der Körpersprache, der Gestik und Mimik der SchauspielerInnen, die unter der Regie von Anne Habermehl ein sehr dichtes Zusammenspiel realisieren.
Die Figuren des Stücks erscheinen nicht als typische DDR-BürgerInnen, sondern als Individuen, und wichtiger als die politischen Hintergründe sind die unterschiedlichen Auffassungen von Freiheit, durch die diese Menschen voneinander getrennt sind.
Papa überlegt, dass sich nach dem Mauerfall doch eigentlich ein Gefühl von Freiheit hätte einstellen müssen. Freiheit ist für diesen Mann allerdings eher etwas Bedrohliches. Mit Veränderung kann er nicht umgehen. Für ihn müsste alles so bleiben, wie er es gewohnt war. Der Mann, der in Steinen die Spuren der Vergangenheit sucht, erscheint selbst fast so unbeweglich und starr wie ein Stein. Und doch macht Peter Prautsch auch spürbar, dass es, tief eingeschlossen, in diesem Menschen einen lebendigen, sehr verletzbaren, Kern gibt.
Papa und Ingrid führen immer wieder boshafte Wortgefechte, die zwar von einigem gegenseitigen Überdruss nach dreißig Ehejahren zeugen, aber nicht wirklich bedrohlich sind. Ursula Staack und Peter Prautsch präsentieren diese Plänkeleien pointensicher und komödiantisch.
Für Ingrid ist Freiheit wohl etwas, wovon sie nur heimlich träumt. Sie nimmt sich zwar kleine Freiheiten heraus, aber sie kennt ihren Platz an der Seite ihres Mannes, für den sie sich verantwortlich fühlt, und den sie, auf eine inzwischen eher mütterliche Art, immer noch liebt.
Das wird sehr deutlich, wenn Ingrid ihre Tochter besucht und der die hundert Briefe an den Kopf wirft, die Papa geschrieben hat. „Dein Vater geht zu Grunde“, schreit Ingrid. Über ihren eigenen Schmerz spricht sie nicht. Sie hat Kartoffeln mitgebracht, um für ihre Tochter zu kochen, aber in dem stillgelegten Bahnhof, in dem Marie wohnt, gibt es keinen Herd.
Ursula Staack bietet eine hinreißende schauspielerische Leistung mit wunderbaren Pausen und Zwischentönen. Ihre Ingrid ist nicht nur ein Muttertier mit einem goldenen Herzen, sie ist auch immer noch eine junge Frau, die neugierig auf die ganze Welt ist, Abenteuer und große Gefühle erleben möchte, die aber ihre eigenen Wünsche, zugunsten ihrer Familie, zurückzustellen pflegt.
Marie ist, anders als ihre Mutter, von der leidenschaftlichen Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit erfüllt und nicht bereit, ihre Träume für einen anderen Menschen zu opfern. Deshalb verlässt sie Marc, als sie erkennt, dass der von ihr Besitz ergreifen will. Schuld an seinem Tod ist Marie nicht, denn Marc hätte sich von ihr nicht zurückhalten lassen. Verständlich ist auch, dass Marie ihren Freund ohne eine Erklärung versetzt hat, denn der kompromisslos seinen Weg verfolgende Marc, der in seiner Verletztheit und Einsamkeit einen Menschen braucht, an dem er sich festhalten kann, hätte Maries Argumente ohnehin nicht verstehen können.
Durch Marcs Tod hat Marie aber den Boden unter den Füßen verloren. Ihr Leben in der Stadt, ohne zuverlässige Bindungen, ist auch eine Art Freiheit, mit der Marie jedoch tief unglücklich ist. Das anfänglich strahlende Gesicht von Alice von Lindenau hat jetzt einen stumpfen Ausdruck, und sie bewegt sich nicht mehr mit graziler Leichtigkeit, sondern angstvoll und unharmonisch wie ein gehetztes Tier.
„Narbengelände“ ist ein hervorragend gearbeitetes psychologisches Kammerspiel, das in der einfühlsamen Regie von Anne Habermehl mit großartigen SchauspielerInnen vom Theater Gera/Altenburg in zwei Vorstellungen in der Box des DT zu erleben war.