Chronik eines angekündigten Todes -Anusha Rizvi enthüllt in „Peepli live“ staatliche Willkür und soziale Kälte fernab des Bollywood-Indiens

Wer nicht gerade Shah Rukh Khan ist, gelangt selten in das Büro eines Präsidenten. Kein verständnisvoller Staatsführer nimmt sich Nathans Schicksal an, das symbolisch für das Sterben der Landbevölkerung steht. Der um seine Wiederwahl bangende Premierminister (Vishal O. Sharma) und der die Industrialisierung vorantreibende Landwirtschaftsminister (Naseeruddin Shah) setzen Nathans Fall aus politischem Kalkül auf ihre Agenda. Trotz der Ernsthaftigkeit der Thematik erzählt „Peepli live – Live aus Peepli“ seine Geschichte mit leisem Galgenhumor. In bitter-ironischen Szenen zeigt Rizvi, wie die Armut Nathans Mitmenschen abstumpft. Weder seine Frau Dhaniya (Shalini Vatsa) noch seine nörgelnde Mutter Amma (Farookh Zafar) haben Einwände gegen den Selbstmordplan, der für sie die letzte Hoffnung auf Existenzrettung ist. Wie die Fernsehteams, die ehrgeizige Reporterin Nandita (Malaika Shenoy) und die Politiker, die Nathan schließlich eine buchstäbliche Deadline setzen, interessieren sich alle nur für die materiellen Aspekte von Nathans Tod. Jeder will seinen Freitod instrumentalisieren, letztendlich auch Natha selbst.

Zu den in Bollywood-Produktionen obligatorischen Freudentänzen haben die Bauern wenig Anlass. Als Natha einmal ein Lied anstimmt, unterbricht ihn sein Bruder barsch: „Uns brennt der Arsch und du singst.“ Die gesellschaftskritische Tragikkomödie der Regisseurin und Drehbuchautorin Anush Rizvi spielt in einem Indien weit weg von Kitsch-Fantasien, die das indische Kino auf westlichen Leinwänden repräsentieren. Anstelle farbenfroher Kulissen tritt das stumpfe Braun und Ocker der ländlichen Gegend. Ihr Weg führt das Brüderpaar nicht an glitzernde Wasserfälle umrankt von exotischer Blütenpracht, sondern über unbefestigte Straßen und staubige Äcker. Der Boden ist ausgelaugt wie die Menschen. Beide gehören der Bank. Wie nah ihre Geschichte an der Wirklichkeit ist, lässt die Regisseurin im Namen ihrer Hauptfigur anklingen. Natha trägt den tatsächlichen Zunamen von Darsteller Omkar Das Manikpuri. Rizvis ungeschöntes Sozialdrama könnte auch eine Reportage sein.

Die ehemalige Journalistin Rizvi kennt die traurigen Tatsachen hinter ihrer unbarmherzigen Satire. 200.000 indische Bauern nahmen sich innerhalb der letzten zehn Jahre das Leben. Das pragmatische Ende führt das Ausmaß der omnipräsenten Gleichgültigkeit und Verlogenheit vor. Umsonst ist nur der Tod – menschlich ebenso wie finanziell.

Titel: Peepli Live – Live aus Peepli: Irgendwo in Indien

Land/ Jahr: Indien 2010

Genre: Drama

Kinostart: 11. November 2010

Regie und Drehbuch: Anusha Rizvi

Darsteller: Omkar Das, Raghubir Yadav, Nawazuddin Siddiqui, Shalini Vatsa, Farukh Jaffer, Malaika Shenoy, Vishal Sharma

Kamera: Shanker Raman

Musik: Mathias Duplessy

Schnitt: Hemanti Sarkar

Laufzeit: 105 Minuten

Verleih: Rapid Eye Movies

www.rapideyemovies.de

Vorheriger ArtikelSänger Eddie Fisher mit 82 Jahren verstorben – Heaven was never like this: Fünfziger-Jahre-Ikone Eddie Fisher stirbt am 22. September
Nächster ArtikelRächer der Unterwelt – Jean Reno nimmt Rache für „22 Bullets“ in Richard Berrys Thriller „L ´immortel“