Chinoiserien – „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig beim Theatertreffen

Darsteller: Johann Adam Oest (Ein Mann über sechzig); Falk Rockstroh (Ein Mann); Christiane von Poelnitz (Eine junge Frau); Barbara Petritsch (Eine Frau über sechzig); Philipp Hauß (Ein junger Mann)

Diese Polarisierung scheint symptomatisch zu sein für das diesjährige Theatertreffen. Jede der ausgewählten Inszenierungen findet ihre Fans und ihre Feinde. Es hat den Anschein, als gäbe es für jede Besucherin und jeden Besucher ein Stück, das alle ihre bzw. seine Wünsche erfüllt. Die eine Produktion, die alle gleichermaßen in Begeisterung versetzt, gibt es jedoch nicht, glücklicherweise.

Während aber über Stücke, Regie und Bühnenbilder kontrovers und lebendig diskutiert wird, sind die Meinungen über die Schauspielerinnen und Schauspieler, die bei diesem Theatertreffen auf der Bühne stehen, einheitlich positiv. So ist dieses Festival in besonderem Maß ein Podium für Schauspielkunst von hervorragender Qualität.

Auch in Roland Schimmelpfennigs neuem Stück „Der goldene Drache“, einer Produktion des Wiener Burgtheaters, war ein grandioses Schauspielensemble zu erleben.

Im Stück geht es um Menschen aus Thailand, China oder Vietnam, die illegal in einem europäischen Land leben und arbeiten wie der kleine Chinese, der seine Schwester sucht und einen Job im Thai-China-Vietnam-Restaurant „Der goldene Drache“ gefunden hat.

Selbstverständlich ist der kleine Chinese nicht krankenversichert, darf als Illegaler auch nicht auffallen, kann deshalb keinen Zahnarzt aufsuchen, als er von unerträglichen Zahnschmerzen befallen wird. Einer der Köche im Restaurant bricht schließlich den kariösen Zahn  mit der Rohrzange heraus. Das geschieht in der Küche, während gekocht und angerichtet wird und unentwegt Speisen zu den Gästen hinausgetragen werden.

Der Zahn fliegt durch die Küche und landet im Wok, in den gebratenen Reisbandnudeln. Eine Köchin will den Zahn dort herausholen. Dabei fliegt der Zahn aus dem Wok und in die Thai-Suppe, die gerade hinausgetragen und dann an Tisch Nummer elf einer Flugbegleiterin serviert wird.

Der kleine Chinese verblutet in der Küche. Seine Kollegen rollen ihn in einen Teppich, tragen ihn heimlich hinaus und werfen die Leiche in den Fluss.

Die Flugbegleiterin entdeckt den Zahn in ihrer Suppe. Anstatt sich zu beschweren, nimmt sie den Zahn stillschweigend mit nach Hause, trägt ihn dann zum Fluss, in dem der kleine Chinese gerade davongeschwommen ist, nimmt den Zahn in den Mund und spuckt ihn dem Chinesen hinterher.

Die Schwester, die der Chinese gesucht und nicht gefunden hat, arbeitet als Prostituierte und wird von einem brutalen Freier versehentlich umgebracht.

Das Asia-Restaurant befindet sich im Parterre eines Hauses, das ansonsten von EuropäerInnen bewohnt wird. Neben der Flugbegleiterin und ihrer Kollegin gibt es einen alten Mann, der gern jung wäre, seine Enkelin, die gerade schwanger geworden ist, ihren Freund, der kein Kind will, ein Ehepaar, das sich trennt und einen geldgierigen Lebensmittelhändler.

Zusätzlich zu diesen realen Personen bringt Schimmelpfennig noch die Grille und die Ameise aus der Fabel von La Fontaine mit ins Spiel.

Die Geschichte ist, wenn auch mit einigen Absurditäten gewürzt, relativ simpel und sentimental. Schimmelpfennig hat diese Geschichte jedoch in 48 kleine Stücke zerhackt und so ein Puzzle aus Miniaturszenen kreiert, die sich schließlich zu einem Gesamtbild zusammenfügen.

Fünf SchauspielerInnen spielen sämtliche Rollen des Stücks. Dabei hat Roland Schimmelpfennig, der nicht nur der Autor, sondern auch der Regisseur ist, den Frauen die Männer- und den Männern die Frauenrollen übertragen, die Jungen spielen die Alten und die Alten die Jungen.

Von Rollen kann eigentlich gar nicht die Rede sein. Die Darstellerinnen und Darsteller sind für die Figuren, die sie lediglich skizzieren, jeweils mit einem Requisit oder einem Kostümteil ausgestattet. Während der Szenen stehen sie meistens nebeneinander vorn an der Rampe frontal zum Publikum. Optisch entsteht der Eindruck von Kabarett.

Die vorgestellten Szenen laufen jedoch nicht auf Pointen hinaus und sind auch nicht in sich geschlossen, sondern reißen irgendwann ab. Die AkteurInnen begeben sich dann in den Hintergrund der Bühne, von wo sie oder Andere nach vorn kommen, um eine neue Szene zu spielen, die dann wiederum unvermittelt abbricht. Die abgerissenen Szenen werden irgendwann genau da fortgesetzt, wo sie aufgehört hatten. Verwirrung entsteht dadurch nicht, denn die Inhalte sind unkompliziert, und die SchauspielerInnen skizzieren die Figuren mit bewundernswerter Präzision.

Zunächst erscheint es grotesk und befremdlich, wenn Christiane von Poelnitz als der kleine Chinese vor Zahnschmerzen brüllt, dann plötzlich den Mund zuklappt, die Szene verlässt, als eine andere Figur wieder auftaucht, und dann wieder an der Rampe hockt, unvermittelt den Mund aufreißt und das Schmerzgeschrei fortsetzt. Da sich solche Überraschungseffekte jedoch ständig wiederholen, verlieren sie schnell ihren Reiz.

Trotzdem gelingt Christiane von Poelnitz mit der Darstellung des kleinen Chinesen ein tief anrührendes Porträt eines zauberhaften, liebenswerten Wesens. Besonders ergreifend ist die Erzählung des Toten von seinem Weg nach Hause durch den Fluss, in den er geworfen wurde, durch Meere, an vielen Ländern vorbei, bis er endlich wieder in seinem Dorf in China ankommt und glücklich ist, daheim zu sein.

Die Vorstellung fand im Berliner Ensemble statt, und diese Textpassage, eine Variation von Brechts Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“ hatte hier den passenden Rahmen.

Das Ergreifende in dieser Inszenierung ist zugleich das Ärgerliche. Das europäische Klischee von den entzückenden kleinen Chinesen, die immer lächeln, obwohl sie immer traurig sind und in deren unschuldigen Kinderherzen keine Bosheit zu finden ist, nur Demut und tiefe Weisheit, wird hier nicht entlarvt, sondern manifestiert. „Das Land des Lächelns“ lässt grüßen.

Das gilt ganz besonders für die Gestalt der Grille, die sich als Schwester des kleinen Chinesen entpuppt. Die darstellerische Leistung von Philipp Hauß bei der Präsentation dieser Figur ist grandios. Der muskulöse Körper des jungen Schauspielers ist bekleidet mit einem weißen Unterrock, und auf dem Kopf trägt er eine alberne Geishaperücke. Ein wahrhaft grotesker Anblick, der dennoch nicht zum Lachen, sondern viel eher zum Weinen reizt. Denn Philipp Hauß steht so verloren und hilflos da, die Beine aneinander gepresst und die Arme fest an den Körper geschlossen. Er wirkt wie eine kunstvolle Porzellanfigur, und wenn er sich bewegt, scheint er schwerelos dahin zu schweben.

Einen wirkungsvollen Kontrast dazu bildet Barbara Petritsch als böse, ausbeuterische Ameise. Die Schauspielerin, gerade noch als hilfsbereite Köchin zu erleben, lässt jetzt ihre Augen hinter einer schwarz umrandeten Brille heimtückisch funkeln. Sie verzieht ihren Mund so abenteuerlich, dass ihr Gesicht tatsächlich etwas ameisenähnliches bekommt. Sie spricht nicht, sondern lässt Worte aus ihrem Mund fallen, spuckt sie aus, kotzt sie fast heraus. Dieses bedrohliche Insekt, zugleich der Lebensmittelhändler, der die Schwester des kleinen Chinesen in die Prostitution zwingt, ist eine Vertreterin der plumpen, rabiaten Europäer, die den filigranen, vergeistigten Asiaten den Garaus machen.

Neben den schwarz oder weiß gemalten Gestalten gibt es aber auch Wesen, die weniger festgelegt sind. Wenn Falk Rockstroh und Johann Adam Oest sich als Flugbegleiterinnen ihre Tüchlein um den Hals binden und ihre Trolleys hinter sich her ziehen, dann vermitteln sie den Eindruck von Flaneuren die, aufmerksam und freundlich, überall auf der Welt zu Hause sein und sich in jede Kultur hineinfinden können.

Die Leistung des fünfköpfigen Schauspielensembles ist in der Tat bemerkenswert und tröstet darüber hinweg, dass die Inszenierung sich in formalen Experimenten erschöpft und das Stück klare Aussagen vermissen lässt.

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