Berlin, Deutschland (Weltexpress). Wir alle leider unter den schlimmen, fußballosen Zeiten, die in geschmackloser Regelmäßigkeit über uns hereinbrechen. Vom Handballteufel erfundene Ruhezeiten, sinnlos vergammelte Wochenenden ohne unsere innig geliebte Balllümmelei. In solchen traurigen Stunden kann der Blick in ein gutes Buch helfen. Ganz besonders fleißig ist derzeit Jens Fuge, seines Zeichens Fan von Chemie Leipzig und historisches Gewissen aller Anhänger der Grünweißen.
Schon der zweite Band seiner BSG-Chemie-Leipzig-Fantrilogie erblickte kürzlich das Licht der Welt und entflammt nicht nur die Chemiker aus dem fernen Leipzig-Leutzsch. Kennst du den Platz, wo die Sonne stets lacht?, heißt der fette Band, der wesentlich in den 80er Jahren bis zur Wende in der DDR angesiedelt ist. Neben etwa 1000 Fotos und Abbildungen begeistert das Buch durch einen wahren Orkan an Fangeschichten, in denen sehr häufig von lachenden Sonnen wenig zu spüren ist. Denn die aktiven Fußballfans der DDR hatten einen Hauptfeind, der ihnen permanent auf die Füße trat, ihnen das Leben schwermachte und den Spaß versaute: Vater DDR-Staat, samt eifriger Meute aus Stasileuten, Volkspolizisten, Transportpolizisten, Parteigenossen und deren willfährigen Spitzeln und Vollstreckern. Immer auf der Jagd nach negativ-dekadenten Jugendlichen, die vom Westfußball verseucht, die gleichgeschaltete DDR-Jugend möglicherweise konterrevolutionär infiltrierten und am Ende sogar den Staat stürzen wollten? Mit frechen Gesängen, in Westjeans gekleidet, tapeziert mit Bundesligaaufklebern und einer Sehnsucht nach ein bisschen Freiheit im biederen DDR-Alltag, spazierten diese jungen Menschen durch das Stadtbild und zeigten Karl Marx die lange Nase. Und jagten den sozialistischen Kleinbürgern einen gehörigen Schrecken ein.
Bei Chemie war diese Klientel besonders stark vertreten. Chemie galt als sogenannter ziviler Club. Keine Stasi, keine Bullen, keine Partei hatten dort angeblich das Sagen. Chemie war für seine Fans gelebte, unangepasste Arbeiterkultur. Roh, laut, irgendwie dagegen, am liebsten besoffen. Besoffen vor Glück, besoffen von billigem Fusel, besoffen vor Freundschaft, die viele Jugendliche beim Fußball fanden. Chemie zog Kunden, Punks, Rocker und Langhaarige magisch an. Fuge hat es in seinem Buch geschafft, dieser Klientel eine Stimme zu geben. In Interviews, Gedächtnisprotokollen und Fotoserien geben sie Auskunft über das Fandasein in der DDR. Immer mit der großen Zehe im Knast, den Kopf voll herrlicher Flausen, ließen sich viele vom Staat und dessen willigen Schergen einfach nicht unterkriegen.
Das Buch ist ein Denkmal für alle jene Chemiker (und wenige Chemikerinnen), die zu DDR-Zeiten stolz und abenteuertrunken durch die Stadien der Zone pilgerten, sich kloppten, sich liebten, ihre Lieder sagen und ihr kleines bisschen Fußballfreiheit lebten. Ein großartiges Geschichtsbuch, eine wunderbare Hommage an alte Säcke, die einmal Helden waren. Kaufen, kaufen, kaufen!
Bibliographische Angaben
Jens Fuge, Kennst du den Platz, wo die Sonne stets lacht?, Chemie Leipzig und seine Fans (Band 2), 524 Seiten, 1000 Abbildungen, Verlag: Backroad Diaries, Leipzig 2017, ISBN: 3-9816023-6-4, Preis: 35 EUR